Was nicht angenommen ist, kann nicht geheilt werden
Diese Erkenntnis gilt es zu beherzigen, wenn man sich jetzt damit auseinandersetzt, wie es weitergeht. Beschönigungen helfen da nicht weiter. Auch wenn man will, dass die Kirche irgendwann von den Menschen nicht länger eine Täterorganisation oder gar Verbrecherorganisation genannt wird. Es fängt damit an, wie im Vorwort bereits erwähnt, zuerst den Täter, den Verbrecher, zu sehen, der Priester, Bischof ist, und nicht zuerst den Priester zu sehen, der Täter ist, ohne ihn dabei allerdings darauf zu reduzieren. Es schärft unseren Blick, lässt uns genauer hinschauen und stärkt unsere Bereitschaft, konsequenter vorzugehen. Einmal, wenn ein Priester sexuelle Gewalt ausübt. Dann aber auch, wenn es darum geht, zu entscheiden, wer zum Priesteramt zugelassen wird. Den Täter bzw. den potentiellen Täter erst gar nicht zum Priester zu weihen, zum Bischof zu ernennen, setzt freilich voraus, noch genauer hinzuschauen auf den, der diesen Weg gehen will. Noch klarer zu benennen, was die Voraussetzungen sind, die dafür gegeben sein müssen. Endlich die Lebensformen, die Umstände, die Gegebenheiten, die es potentiellen Tätern ermöglichen und erleichtern, zu Tätern zu werden, zu beseitigen.
Ein solches Vorgehen, bei dem ich genau hinschaue, nichts verharmlose, wird dann aber auch dazu beitragen, deutlich zu machen, dass die überwiegende Mehrheit der Priester und Bischöfe keine Verbrecher sind. Wenn die Kirche die notwendigen Konsequenzen zieht, die sich aus der Missbrauchskrise ergeben, wenn sie sich dem Reinigungsprozess aussetzt, der mit dieser Krise einhergeht, hat sie auch die Chance, in den Augen vieler – wieder – zu einem Ort zu werden, an dem Menschen ihre spirituelle Heimat finden.
Die Finger in die Wunde legen
Die Kirche ist verwundet. Dabei handelt es sich um eine Wunde, die sich die Kirche, ihre Elite sich zum Teil selbst zugefügt hat und zufügt. Diese Wunde haben die Opfer sexualisierter Gewalt, denen damit ein unsägliches Leid zugefügt wurde und wird. Diese Wunde sehen wir aber auch bei den Gläubigen, deren Gutgläubigkeit und deren Glaube durch das Verhalten der Missbrauchstäter und der vertuschenden Bischöfe erschüttert wurden. Sie betrifft schließlich auch die Täter, deren Integrität durch ihr Verhalten fundamental verletzt wurde.
Wie tief diese Wunde ist, wie viel Leid und Entsetzen sie auslöst, ist mir unter anderem bewusst geworden bei den Reaktionen, die der arte-Film „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ auslöste, der sich mit sexueller Gewalt gegen Nonnen durch Priester, unter ihnen auch Bischöfe, befasste. Übrigens ein Bereich, der beim Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche nicht hinreichend berücksichtigt wird und gerade an dieser Stelle, wo es um den Umgang der Kirche mit Sexualität an sich geht, besonderer Beachtung bedarf: die sexualisierte Gewalt gegen Erwachsene durch Priester.
Daher ist es notwendig, die Finger in die Wunde zu legen. Auch wenn es weh tut. Denn manchmal muss eine Wunde erst vertieft werden, muss der Schmerz in seiner ganzen Schärfe zugelassen und ausgehalten werden, damit die Wunde wieder heilen kann. Solange man versucht, den eigentlichen Schmerz zu vermeiden, macht man sich etwas vor. Es gelingt einem vielleicht, den Schmerz vorübergehend zu lindern. In Wirklichkeit quält man sich aber unentwegt damit ab und verhindert, die schmerzhafte Situation zu verändern. Das geschieht erst, wenn man, nachdem man den Schmerz durchgestanden hat, die notwendigen Konsequenzen zieht, die notwendigen Entscheidungen trifft, die sich aus der Krise ergeben, und sich auf Neues einlässt.
Wenn die Kirche nicht handelt, läuft sie Gefahr, sich wieder schuldig zu machen
So ist es zwar zu begrüßen, wenn die deutschen Bischöfe auf ihrer Herbstvollversammlung 2019 sich weder von Rom noch von einigen Bischöfen wie Bischof Voderholzer und Kardinal Woelki davon abhalten ließen, sich im Rahmen eines synodalen Weges auf einen Dialog zu Fragen von Macht in der Kirche, priesterlicher Lebensform, Sexualmoral und Stellung der Frau in der Kirche einzulassen. Das ist angesichts des Bruchs zwischen der Lehre der Kirche und dem Lebensstil der Menschen überfällig. Auch ist es zu begrüßen, dass die Entschädigungszahlungen an die Opfer sexueller Gewalt erhöht werden sollen.
Auf der anderen Seite offenbaren sich wieder einmal die Ohnmacht der deutschen Bischöfe und die Ohnmacht der
Laien, wenn es darum geht, Grundsätzliches in der Kirche zu verändern. Diskutieren, Vorschläge machen: „ja“, aber mitbestimmen und mitentscheiden: „nein“. Das so ersehnte kraftvolle Zeichen der Kirche an die Öffentlichkeit findet damit nicht statt. Vielmehr bleibt der Eindruck bestehen und wird sogar bestätigt, dass das klerikale System der Kirche, bei dem die eigentliche Macht in den Händen der Kleriker liegt, unangetastet bleibt, die so notwendige Aufteilung der Macht unter den Getauften – Männern und Frauen – in weite Entfernung gerückt ist. Ich befürchte daher, dass zum einen die Gläubigen weiter in Massen die Kirche verlassen werden, weil sie mit einer Organisation, die die Mehrheit ihrer Mitglieder, darunter vor allem die Frauen, bei der Mitbestimmung und in der Führung ausschließt, nichts mehr zu tun haben will. Zum anderen bleibt ungelöst, was ja die ganze Debatte angestoßen hat: Wie kann die sexualisierte Gewalt in der Kirche eingedämmt und verhindert werden? Denn sexualisierte Gewalt und geistlicher Missbrauch finden weiterhin statt.
Kann man es vor diesem Hintergrund tatsächlich verantworten, darauf zu warten, bis sich gesamtkirchlich etwas verändert? Das kann man nicht. Man läuft vielmehr Gefahr, sich wieder einmal, weil man etwas versäumt hat, weil man nicht gut genug hingesehen, weil schon wieder das klerikale System Vorrang hat, schuldig zu machen.
Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten
Die Kirche hat viel an Glaubwürdigkeit verloren. Zu Recht. Auf der anderen Seite ist die Kirche mehr als das Bild, das von ihr im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt gegenwärtig vermittelt wird. Das darf man nicht übersehen. Jeder und jede werden auch unzählige Personen, die in der Kirche Verantwortung haben, kennen, die glaubwürdig leben und glaubwürdig sind. Auch verbinden viele sehr schöne und bereichernde Erfahrungen mit Kirche.
Man sollte nie vergessen, dass dort, wo viel Licht ist, auch viel Schatten ist. Ja, je mehr Licht, desto größer der Schatten. Ich erinnere mich an ein Interview, das ich als Abiturient mit Karl Rahner führte. In diesem Interview sagte er unter anderem, dass die Kirche immer auch eine sündige Kirche ist. Das ist keine Entschuldigung. Aber manche, die die Kirche idealisieren, müssen das, so schmerzhaft es für sie ist, zur Kenntnis nehmen.
Wir sollten demütiger werden. Das extra eclessiam nulla salus est – außerhalb der Kirche kein Heil – hat längst ausgedient. Auf der anderen Seite müssen wir uns auch nicht verstecken. Weil es auch viel Gutes gibt in der Kirche. Weil viele Männer und Frauen, die in der Kirche arbeiten, gerne ihrem Beruf nachgehen, viele ihr Herzblut geben. Weil was sie tun, in vielerlei Hinsicht darauf aus ist, Menschen dabei zu unterstützen, das Menschenherz auf Gott und die Menschen auszurichten. Weil es unzählige Menschen gibt, denen ihre Kirche viel bedeutet hat und in dem, was sie wesentlich ausmacht, weiterhin viel bedeutet. Weil sie sie nicht als ihre spirituelle Heimat verlieren wollen. Hier gilt, was Joseph Ratzinger (1968) in seiner „Einführung in das Christentum“ geschrieben hat: „Nur wer erfahren hat, wie über den Wechsel ihrer Diener und ihrer Formen hinweg Kirche die Menschen aufrichtet, ihnen Heimat und Hoffnung gibt, eine Heimat, die Hoffnung ist: Weg zum ewigen Leben – nur wer dies erfahren hat, weiß, was Kirche ist, damals und heute.“
Die Menschen, auf die das zutrifft, gibt es und ich begegne ihnen immer wieder. Sie haben bei allem, was sie auch an der Kirche stören mag und sie im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt in ihren Reihen mit Recht kritisieren, in ihr Heimat gefunden, die Hoffnung ist, Weg zum ewigen Leben. Das kann nicht oft genug in Erinnerung gerufen