– nicht mehr wegschauen. Es muss in der Kirche eine Kultur geschaffen werden, in der weder Platz ist für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen noch für einen Machtmissbrauch, der Vertuschen ermöglicht;
– nicht mehr bagatellisieren. Sich nicht mehr blenden lassen vom Amt. Klar aussprechen, dass sexualisierte Gewalt durch Kleriker ausgeübt wurde und wird, Bischöfe sich schuldig gemacht haben, indem sie sexuellen Missbrauch im Kontext der Kirche vertuscht haben;
– noch genauer hinschauen. Wer ist für einen kirchlichen Beruf geeignet? Sich durch das Nachlassen von Berufungen nicht verleiten lassen, weniger sorgfältig bei der Auswahl zu sein.
Andere Konsequenzen müssen noch gezogen werden, meint man es wirklich ernst mit der Prophylaxe sexualisierter Gewalt in der Kirche; dazu zählt:
– die tieferen Ursachen für sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext ernst nehmen und die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. Dabei geht es vor allem um die Abschaffung des Pflichtzölibats, ein Ende der negativen Einstellung gegenüber Homosexualität und homosexuellen Menschen, ein Ende der Diskriminierung von Frauen durch Verweigerung von Führungspositionen in der Kirche. Ein Ende der unseligen Trennung zwischen Kleriker und Laien, ein Umbau des klerikalen Systems in ein Netzwerk kollegialer Zusammenarbeit.
Das aber steht unbedingt an, will man einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, Verbrechen in der Kirche, die in einem Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt stehen, zu vermeiden.
Sexueller Missbrauch im kirchlichen Kontext findet weiterhin statt
Denn, so Harald Dreßing (2019, 261), der Leiter der MHG-Studie, sexueller Missbrauch findet in der Kirche weiterhin statt. Es gibt keinen Hinweis darauf, „dass sich seit 2009 die Quote beschuldigter Priester signifikant verringert hat“. In einer persönlichen Mitteilung an mich schreibt er: „[…] es gibt ja leider nach wie vor auch neue Fälle, die sich jetzt ereignen, und die Reaktion der Kirche darauf ist m. E. fatal; man preist die Prävention und behauptet, es sei alles ein Problem vergangener Zeiten, was leider nicht stimmt.“ Das lässt mich nicht nur aufhorchen, sondern alarmiert mich auch. Zeigt es doch, dass längst nicht alles getan ist. Die eingeleiteten Maßnahmen nicht dort greifen, wo sie greifen müssten, sollen sie bewirken, dass sexualisierte Gewalt in der Kirche verhindert wird.
Harald Dreßing und seine Mitarbeiter plädieren dafür, dass Priester verstärkt in die kirchlichen Präventionsprogramme einbezogen werden. Das ist sicher eine Möglichkeit, die Wirksamkeit der in den Leitlinien und im Präventionsprogramm vorgestellten Maßnahmen zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt zu verstärken. Tatsächlich gibt es ja auch immer wieder Berichte, wonach Priester sich besonders schwertun, an solchen Programmen teilzunehmen; das als überflüssig oder auch als eine Zumutung erachten. Auf der anderen Seite höre ich aber auch von Präventionsverantwortlichen, dass sie keinen Unterschied feststellen können zwischen Klerikern und anderen hauptamtlichen oder ehrenamtlichen kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, was die Bereitschaft betrifft, an solchen Programmen teilzunehmen.
Es mutet mich angesichts dieser Daten eigenartig an, wenn ich inzwischen immer öfters höre, dass es nur noch wenige Fälle sexuellen Missbrauchs gebe, und der Eindruck erweckt wird, man habe inzwischen viel, vielleicht sogar genug getan; vor allem aber dass die Kirche im Vergleich zu anderen Einrichtungen wie Schulen oder sportlichen Organisationen hinsichtlich der bisher beschlossenen und durchgeführten Präventionsmaßnahmen recht gut dastehe. Ganz abgesehen davon, dass ich solche Vergleiche für recht problematisch halte, scheint hier etwas nicht richtig zu laufen, nicht angemessen bedacht und berücksichtigt zu werden. Oder einfach – ich werde nicht müde, das immer und immer wieder aufs Tapet zu bringen – nicht ernst genommen zu werden.
Kann es also nicht auch sein, dass deswegen die Zahl der Täter nicht signifikant zurückgegangen ist, weil die tieferliegenden Gründe für den sexuellen Missbrauch noch nicht behoben worden sind? Leitlinien und Präventionsordnung sind wichtige Instrumente bei dem Versuch, sexualisierter Gewalt in der Kirche zu begegnen. Allein, sie tangieren nur die Oberfläche. So ist es wichtig, in der Kirche eine Atmosphäre und eine Situation zu schaffen, die die Sensibilität für potentielle sexualisierte Gewalt fördern. Bei der Schulung, die dazu beitragen soll, müssen alle kirchlichen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit einbezogen werden, also neben den Priestern auch die Personen, die nicht zumindest in erster Linie zur Risikogruppe der Täter gehören, wie etwa die Kindergärtnerinnen oder die Eltern bei Firmvorbereitungsgruppen. Darüber hinaus müssen aber die die eigentliche Risikogruppe – also die Priester – betreffenden Maßnahmen, die dazu beitragen können, sexualisierte Gewalt zu reduzieren oder gar zu verhindern, umgesetzt werden. Geschieht das nicht, bleibt das alles nur eine halbe Sache oder sogar weniger als eine halbe Sache.
Die Kirche hat längst noch nicht genug getan
Um welche Maßnahmen und Konsequenzen es sich dabei handelt, ist nicht erst seit der MHG-Studie, sondern seit Jahrzehnten bekannt. Neben anderen habe ich in den zurückliegenden Jahren, ja man kann sagen Jahrzehnten, gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, zum ersten Mal bereits 1996 in der Herder-Korrespondenz. Danach gibt es u. a. einen Zusammenhang zwischen dem hohen Vorkommen sexualisierter Gewalt im Kontext der Kirche und dem Zölibat, der Einstellung der Kirche zur Homosexualität, homosexuellem Verhalten und homosexuellen Priestern, der Morallehre der katholischen Kirche im Bereich menschlicher Sexualität und schließlich dem Fehlen von weiblichem Führungspersonal in der Kirche und vor allem dem Klerikalismus. Sie sind nicht die Ursache dafür, können aber die Ausübung sexualisierter Gewalt mit verursachen, sie begünstigen und stellen somit einen Risikofaktor dar.
Die Betonung liegt dabei auf Risikofaktor. Wenn ich aber weiß, dass etwas mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, muss ich besonders gut darauf achten, dass dieses Verhalten, diese Einstellung die Ausübung sexualisierter Gewalt, also die Ausübung eines Verbrechens, nicht begünstigt. Ich muss weiter alles tun, was dazu beiträgt, das zu verhindern, bis dahin, dass ein Verhalten, eine Praxis, eine bestimmte Einstellung geändert wird. Solange in diesem Bereich keine entscheidenden Veränderungen erfolgen, vor allem keine schonungslose Auseinandersetzung mit dem Klerikalismus, der sexualisierte Gewalt in der Kirche erleichterte und zu deren Verharmlosung beitrug, stattfindet, wird das Problem sexualisierter Gewalt in der Kirche nicht angemessen angegangen, geschweige denn gelöst werden.
Damit die Kirche aber so weit kommt, sie nicht Gefahr läuft, sich wieder schuldig zu machen, müssen aber auch endlich die notwendigen weitergehenden Konsequenzen gezogen werden, die sich aus der Krise ergeben. Sich bewusst zu machen, dass es sich bei dem missbräuchlichen Verhalten von Mitarbeitern der Kirche und dem Vertuschen eines solchen Verhaltens nicht um Bagatellfälle, sondern schwerwiegende Verbrechen und Verfehlungen handelt, kann helfen, endlich bereit zu sein, diese weitergehenden Konsequenzen anzugehen.
Doch auch und selbst das reicht inzwischen nicht aus, um die Schäden, die die Erschütterung, welche die Missbrauchskrise ausgelöst hat, in der Kirche angerichtet hat, zu beheben, den immensen Vertrauensverlust, den die Kirche erlitten hat, wiederherzustellen. Die Missbrauchskrise hat nämlich deutlich gemacht: An der Kirche selbst ist etwas faul. Der üble Geruch, der von sexualisierter Gewalt in der Kirche und dem lieblosen Umgang der Bischöfe mit den betroffenen Opfern ausging, kommt aus dem Innersten der Kirche. Er kommt von der Fäulnis, die die Kirche befallen hat, die in der Gestalt des klerikalen Systems ihre stärkste Ausprägung gefunden hat und bis heute darin ihren Ausdruck findet. Denn, so muss man sich fragen, was ist das für ein System, in dem Personen, die Verantwortung tragen, über Jahrzehnte den Schrei der Betroffenen nicht gehört haben, nicht hören wollten, unterdrückt haben? Deren Herz sich nicht vor Schmerz gekrümmt hat angesichts deren Schicksale?
So hat die Missbrauchskrise die Kirche, die mit dem Pontifikat von Papst Franziskus dabei war, sich etwas von der Schreckensherrschaft seiner Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die von einer innerkirchlichen Atmosphäre der Angst und der Sanktionen gegen missliebige Theologen geprägt war, zu erholen, wieder eingeholt und gezwungen, sich mit ihrer unerlösten Seite auseinanderzusetzen. Das heißt, die weitergehenden Konsequenzen, die u. a. den Pflichtzölibat, die Einstellung zur Homosexualität,