Ich möchte mit diesem Buch aufrütteln, weitergehende Konsequenzen aufzeigen, die sich aus der gegenwärtigen Krise ergeben. Ich möchte Mut machen, angesichts der dramatischen Situation, in der sich gegenwärtig die katholische Kirche befindet, entschiedener konkrete, auch radikale Schritte zu unternehmen, die wirklich zu einer Wende führen. Das aber wird nur im Miteinander auf Augenhöhe möglich sein, nicht im Gegeneinander, bei dem man sich gegenseitig Missbrauch des Missbrauchs vorwirft.
Wenn es überhaupt noch möglich ist und es nicht längst zu spät ist. Denn, Tatsache ist: Was wir augenblicklich erleben, ist der Zusammenbruch eines kirchlichen Systems, das sich überlebt hat. Ein Zusammenbruch, der offensichtlich nicht mehr aufzuhalten ist, mag man sich auch noch so vehement dagegenstemmen. Dass es mit der Kirche weitergeht, ist nicht selbstverständlich und gottgegeben. Auch Dinosaurier sterben aus.
Was jetzt ansteht, ist ein Reinigungsprozess, dem die Kirche sich ohne Wenn und Aber stellen muss, soll es weitergehen mit ihr. Mit all den Schmerzen, aber auch Chancen, die damit verbunden sind. Dieser Reinigungsprozess betrifft alle, denen die Kirche weiterhin etwas bedeutet, die sogenannten Kleriker nicht weniger als die sogenannten Laien. Bei diesem Reinigungsprozess wird und muss noch vieles von der Kirche abfallen, was sich bei ihr als ein falsches Licht erwiesen hat. Sie wird sich auf einen Weg machen müssen, auf dem weiterhin viele Menschen irgendwann entscheiden werden, dass sie aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht länger bereit sind, diesen Weg mitzugehen, und deshalb die Kirche verlassen. Der Schrumpfungsprozess, in dem wir uns befinden, wird weitergehen und sich sogar noch intensivieren. Dabei geht es nicht darum, wie Kardinal Marx befürchtet, dass am Ende eine kleine Schar der Reinen übrigbleibe. Vielmehr geht es darum, dass die Kirche endlich wieder, so Papst Franziskus, „Biss“ bekommt. In ihr, das ist meine Erwartung an den Reinigungsprozess, endlich wieder das wahre Licht leuchtet, der in der Kirche das Sagen hat, von dem es im Neuen Testament heißt, dass er die Liebe ist. Dahin ist es ein langer Weg, an dessen Ende hoffentlich die Glaubwürdigkeit der Kirche wiederhergestellt ist.
Heribert Handwerk danke ich für die gute Zusammenarbeit bei diesem Projekt.
Ich widme dieses Buch den Frauen und Männern, die bis heute unter den Folgen sexualisierter Gewalt durch Priester leiden, und den Journalisten, die sich in den vergangenen Jahren in besonderer Weise für die Opfer starkgemacht haben, unter ihnen Christine Jeske von der Main-Post, Matthias Drobinski von der Süddeutschen Zeitung und Heike Vowinkel von der Zeitung Die Welt. Ohne sie wäre die Mauer des Schweigens, hinter der sich die Kirche lange versteckt hat, nicht geschleift worden.
Wunibald Müller
TEIL I
Rückblick undBestandsaufnahme – was istbisher geschehen?
Es ist wie ein Déjà-vu
Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär,
und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer.
Diese Worte von Else Lasker-Schüler (2004,104) aus ihrem Gedicht „Weltende“ fallen mir ein, wenn ich an die augenblickliche Situation – wir befinden uns im Jahr 2019 – der katholischen Kirche angesichts der Missbrauchskrise denke. Was mich dabei besonders bestürzt, ist, dass es mir nicht das erste Mal so ergeht, sondern wieder einmal. Es ist wie ein Déjà-vu, dem man anscheinend nicht entweichen kann. Ich habe das in den Jahren 1995, 2002, 2010 in den USA und hier in Deutschland erlebt. Es werden Fälle sexualisierter Gewalt bekannt. Ein Aufschrei erfolgt. Es werden Konsequenzen angekündigt, manche auch vorsichtig umgesetzt. Mit der Zeit legt sich die Empörung. Die anfängliche Bereitschaft, etwas grundsätzlich zu ändern, weicht mit der Zeit der Macht des Alten, Gewohnten, des „so wie bisher“.
Wer sich ernsthaft mit der Thematik befasst hatte, konnte nicht wirklich überrascht sein von den Ergebnissen der MHG-Studie, dem im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführten Forschungsprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (Dreßing et al., 2018). Es wurde bestätigt, was längst bekannt war. Auch den Bischöfen, wenn sie es nicht vorgezogen hatten, der Wirklichkeit lieber nicht ins Gesicht zu schauen.
Immerhin haben, so mein Eindruck, inzwischen viele unter den Bischöfen, zumindest im deutschsprachigen Raum, erkannt, dass die katholische Kirche sich in einer existentiellen Krise befindet. Auch hat vor allem unter den Gläubigen eine Erschütterung stattgefunden und ist noch voll im Gange, die die Kirche in ihren Grundfesten ins Wanken gebracht hat. Die katholische Kirche befindet sich in einer Situation, die an die Zeit vor der Reformation erinnert, ja, so der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, mitunter sogar noch dramatischer ist. Die Glaubwürdigkeit der Kirche, einst ihr höchstes Kapital, ist nahezu aufgebraucht. Geschieht nicht eine radikale Umkehr, befindet sich die Kirche auf dem besten Weg, mit Karacho an die Wand zu fahren.
Wer angesichts dieser Situation über Konsequenzen nachdenkt, darf nicht bei den unmittelbaren Konsequenzen, die sich aus der Missbrauchskrise ergeben, stehen bleiben. Man denke etwa an die Leitlinien, die Präventionsordnung, die zunehmende Praxis, der Opferperspektive vor jeder Rücksichtnahme auf die Institution oder die Täter absoluten Vorrang einzuräumen. Hier hat die Kirche dazugelernt. Die Kirche bzw. die Verantwortlichen der Kirche gehen – zumindest in der Regel – auf die betroffenen Opfer zu. Es gibt klare Regelungen, wie gegenüber den Tätern vorzugehen ist, wobei hier auch noch manche Fragestellungen auftauchen, wenn es z. B. darum geht, wie im Einzelfall mit den Tätern umgegangen werden soll. Hier ist seitens der Diözesen das Bemühen festzustellen, noch mehr Verantwortung als bisher für sie wahrzunehmen. Ich denke z. B. an das Dekret des Münchner Erzbischofs zur „Führungsaufsicht für Kleriker, denen wegen schwerwiegender Delikte die Ausübung der mit der Weihe verbundenen Befugnisse untersagt ist“.
Das Bemühen, alles Menschenmögliche zu tun, um Missbrauch im Kontext von Kirche zu verhindern, ist deutlich erkennbar. Auch wenn noch viele weitere Fragestellungen, Klärungen, Verbesserungen, die u. a. die angemessene finanzielle Anerkennung für das den betroffenen Opfern zugefügte Leid oder die Zusammenarbeit der Kirche mit staatlichen Stellen bei der Strafverfolgung der Täter betreffen, anstehen. Doch insgesamt befindet man sich in diesem Bereich auf einem guten Weg. Das alles muss weiter gefestigt, ständig weiterentwickelt und nicht nur in unseren Breiten, sondern weltweit immer mehr umgesetzt werden.
Das gilt vor allem auch für die osteuropäischen Länder, wie z. B. Polen, vor allem aber auch Afrika und Asien, wobei, so Myriam Wijlens, es nicht ganz richtig ist, dass Letztere in Sachen Missbrauch weiße Flecken sind. Sie verweist auf sehr fortschrittliche Projekte in Afrika und Asien, die bei der Aufarbeitung teilweise deutlich weitergehen als das, was wir aus Amerika und Europa kennen. So gibt es z. B. ein Pilotprojekt, bei dem Missbrauchsopfer sich als Gruppe zusammenschließen, die von der Sambischen Bischofskonferenz unterstützt und bei der Aufarbeitung direkt beteiligt werden. Etwas Vergleichbares gibt es in Deutschland noch nicht. Hier kann man in Deutschland also auch von anderen Ländern noch dazulernen.
Ein Segen, dass der Skandal ans Licht gebracht worden ist
Bei alledem darf man nicht vergessen, dass der Missbrauchsskandal nicht erst begonnen hat, seitdem wir von den Verbrechen, die im Kontext von Kirche geschehen sind, wissen. Wir leben seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten mit diesem Skandal. Dabei können wir das ganze Ausmaß des Leids und des Schadens, die davon ausgegangen sind und ausgehen, noch gar nicht ermessen. Es geht auch um die subtilen Auswirkungen, die ein solches Verhalten auf die Kirche, die Seelsorge, die einzelnen Pfarreien, die Theologie, betroffene Familien usw. hatte und hat.
So gesehen, ist es ein Segen, dass der über viele Jahrzehnte lange Skandal endlich – zumindest zum Teil – aufgedeckt worden ist. Aus dem Dunkel ins Licht gebracht worden ist. Denn dadurch wurden die Voraussetzungen geschaffen, die notwendig waren und sind, um die Konsequenzen zu ziehen, die sich daraus ergeben. Einige sind zumindest