2. Cleavages: Kulturkämpfe als Grundkonflikt. In seiner vergleichenden Studie zur europäischen Christdemokratie nach 1945 weist Timotheos Frey den Christlichdemokraten einen eigenen Parteityp zu, der sich von den religiösen und konservativen Parteien unterscheide. Mit einiger Plausibilität kann man für Europa den Begriff «Christdemokratie» exklusiv für die Zeit nach 1945 verwenden. Für das stabile Parteiensystem der Schweiz ist freilich eine andere Typologie hilfreich, die die «longue durée» stärker hervorhebt. Daher war ich stets der Meinung, dass die katholisch-konservativen Vorgängerinnen der CVP im 19. Jahrhundert aus «strukturellen Konflikten» religiöser und politischer Natur entstanden sind, die als «Kulturkämpfe» in die neuere Schweizer Geschichte eingingen.12
3. Katholisches Milieu: Seit dem 19. Jahrhundert machten die Christlichdemokraten Häutungen durch. Bis in die 1950er-Jahre waren die Vorgängerinnen der CVP katholische «Milieuparteien», die in einer katholischen «Sondergesellschaft» verankert waren. In der schweizerischen Partei besassen die Laien die Führung, der Klerus spielte eine untergeordnete Rolle, was mit den demokratischen Traditionen des Landes zu erklären ist. Insofern war die Schweizer Partei laikaler (nicht laizistischer) als ihre katholischen Schwesternparteien in Europa, in denen Prälatenpolitiker zur Regel gehörten. Da der Kulturkampf als Integrations- und Mobilisationsfaktor seit den 1880er-Jahren abflaute, fokussierte sich das konfessionelle Hauptpostulat auf die Abschaffung der kulturkämpferischen Ausnahmeartikel gegen Jesuiten und Klöster. Mit der fortschreitenden Integration der kirchentreuen Katholiken in den Bundesstaat verlor der konfessionspolitische Gründungsimpuls seine Schub- und Inklusionskraft. Zur Erinnerung sei erwähnt, dass die diskriminierenden Ausnahmeartikel erst 1973 abgeschafft wurden. Bis in die 1950er-Jahre war die Partei in das «katholische Milieu» eingebunden, dessen Zerfall nach 1970 ihr im Vorhof der Politik wichtige Hilfsorganisationen entzog.
4. Politische Programmatik. Wie schon der Name «katholisch-konservativ» belegt, bestand die Identität der CVP schon im 19. Jahrhundert aus politischen Programmpunkten. Bereits im 19. Jahrhundert verstand sich die Partei als politische Partei, die jenseits der Kirchenpolitik ein politisches Programm besass und das «Gemeinwohl» ins Zentrum stellte. Allerdings teilte die Partei mit den Gruppierungen konservativer Observanz die ständige Suche nach den Fundamenten des Konservativismus, was zu Flügelkämpfen führte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand der Kampf für den Föderalismus, in der Zwischenkriegszeit der Kampf gegen den Staatssozialismus und Kommunismus und nach 1945 der Weg zum sozialen Wohlfahrtsstaat im Vordergrund.
5. Solidarität, Subsidiarität und soziale Marktwirtschaft als Grundpfeiler. Im Zeichen des «christlichen Solidarismus» (so lautete das frühere Schlagwort) suchten die Vorgängerparteien einen dritten Weg zwischen dem «individualistischen Liberalismus» und dem «kollektivistischen Sozialismus», einen Weg, der die Gemeinschaft, wie zum Beispiel die Ehe und Familie, oder den solidarischen Ausgleich gegen den Klassenkampf betonte. Jahrzehntelang sprach die Partei ohne konkrete Vorstellungen von der «berufsständischen Ordnung», nach 1945 von der «sozialen Marktwirtschaft», sie meinte aber immer den sozialen Ausgleich der «Stände» und Schichten.13
6. Ausgleich und Mediation als Funktionen. Mit Recht betonen die beiden Politikwissenschaftler Timotheos Frey und Ludwig Zurbriggen die «Mediations»-Funktion der Christlichdemokraten in der Politik und bezeichnen diese als Grundelement ihrer Politik. Zu beachten ist, dass das, was in politologischer Sprache als «Mediation» bezeichnet wird, früher Ausgleich, Kompromiss oder Konkordanz hiess. Schon am Fraktionsjubiläum von 1983 sprach ich in meiner Ansprache vom langen Weg von der Opposition zum «Scharnier» in der Zauberformel-Regierung und meinte diese Mediationspolitik. Insofern war es eine logische Strategie, dass die CVP als Regierungspartei eine Brückenfunktion zwischen linker Sozialdemokratie und rechtem Wirtschaftsfreisinn einnehmen konnte und zum Architekt und Amalgam der Zauberformel-Regierung wurde.
7. Heterogene Sozialstruktur mit Parteiflügeln: Da die Partei von Anfang an eine sozial heterogene Volkspartei darstellte, gehörten Richtungs- und Flügelkämpfe zur Wirklichkeit der CVP. Es änderten sich im Verlauf der Jahrzehnte nur die Konstellationen. Bis zum Ersten Weltkrieg beherrschte der Gegensatz zwischen den Stammlanden und der Diaspora die Partei,14 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschwerte der Konflikt zwischen Konservativen und Christlichsozialen die Geschlossenheit, und im letzten Drittel des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts dominiert der Konflikt zwischen den Anhängern in den urbanen Agglomerationen und jenen in der Landschaft der alpinen und voralpinen Regionen die CVP. Die Partei versucht, diese Flügelkämpfe durch Mechanismen der Konfliktregelung zu dämpfen und zu kanalisieren.
8. Das konfessionelle Dilemma mit dem C. Seit dem 19. Jahrhundert versuchte die Partei in der konfessionell fragmentierten Schweiz den konfessionellen Graben zu überschreiten und Protestanten als Wähler zu gewinnen. Obwohl sie im 20. Jahrhundert Schritt für Schritt die institutionellen und ideologischen Verbindungen mit der Kirche und dem Katholizismus als Sozialform lockerte und 1970 endgültig aufgab, blieb sie bislang im katholischen «Ghetto» stecken.
9. Zwei Pole. In ihrer langen Geschichte wiesen die CVP und ihre Vorgängerparteien zwei mit sich streitende Pole in wechselnder Konstellation und mit wechselnden Schwerpunkten auf. Erstens war die Partei eine katholisch-konfessionelle Partei, solange sie den Kulturkampf und seine Relikte wie die Ausnahmeartikel bekämpfte und die soziale Minderheitenstellung der Katholiken durch die Gleichberechtigungspostulate aufheben wollte. Zweitens war die Partei eine politische, denn sie vertrat stets staats- und gesellschaftspolitische Themen wie Föderalismus, Familie, soziale Marktwirtschaft und so weiter. Bis zur leichten Linksöffnung in den 1950er-Jahren steuerte sie einen stramm antisozialistischen, später bis 1989 einen antikommunistischen Kurs. Im Verlauf der 80er-Jahre machte sie eine Rechtswende hin zu bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsvorstellungen, kombiniert mit einem Wertekonservativismus, durch.15
10. Christlich-demokratisch. Schon im 19. Jahrhundert war die CVP «christlichdemokratisch» avant la lettre, da sie die Demokratie als Staatsform grundsätzlich nie in Frage stellte und eine Partei von Staatsbürgern war, die zwar den weltanschaulichen Orientierungsanspruch der katholischen Kirche anerkannte, in der Praxis aber oft einen autonomen Kurs einschlug. Priesterpolitiker wie in Österreich oder Deutschland gab es in der Schweiz nicht, denn sie hatten eher die Rolle von Intellektuellen inne. Als christlichdemokratische Partei wollte sie schon um 1900 die konfessionellen Schranken überwinden, was ihr wegen der unterschiedlichen Konfessionskulturen in der Schweiz bisher nur ansatzweise gelang.
1.2 VON DER HINTERBANK IM PARLAMENT ZUM SCHARNIER IN DER ZAUBERFORMEL-REGIERUNG
Der Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848 ging eine rund 50-jährige Periode von Revolutionen und Gegenrevolutionen voraus.1 Verfassungsänderungen und Regierungsstürze, Putschs und Staatsstreiche, Volksaufstände und Befreiungsbewegungen, kurz politische Gewalt beherrschten vorab in den 1840er-Jahren die eidgenössische Politik. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. 1839 erregte die Wahl eines liberalen Theologieprofessors an die Zürcher Universität das fromme reformiertkonservative Landvolk so sehr, dass daraus eine Volksbewegung entstand, die zum Sturz der freisinnigen Zürcher Regierung führte. 1845 fiel im Kanton Luzern der konservative Bauernführer Josef Leu von Ebersoll einem politischen Attentat zum Opfer.
Die Auseinandersetzungen zwischen den Radikal-Liberalen und den Katholisch-Konservativen (so lauteten die zeitgenössischen Parteibezeichnungen) erreichten Mitte der 1840er-Jahre einen ersten Höhepunkt. Als Gegenaktion auf die Berufung der Jesuiten nach Luzern organisierten die Radikalen zwei interkantonale Befreiungsbewegungen zum Sturz des ultramontan-katholischen Luzerner