Nach dem französischen Historiker Jean-Marie Mayeur schlossen die Christlichdemokraten fast überall an katholische Parteien wie das «Zentrum» in Deutschland oder den «Partito Popolare Democratico» an. In Europa hinterliessen die furchtbaren Verwüstungen des Weltkriegs, die Knebelung der liberalen Freiheit durch die totalitären Staaten und die Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden traumatische Spuren und verhalfen den christlich-konservativen Kräften zum Durchbruch, die nach 1945 im Sinn der US-amerikanischen Weltmacht für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einstanden. Damit gelang es, die national-konservativen Kräfte auf der rechten Seite des politischen Spektrums einzubinden, ja aufzusaugen.
Da die Traditionen des Sozialkatholizismus mit den Enzykliken «Rerum Novarum» von 1891 und «Quadragesimo anno» von 1931 nachwirkten, wurden die neuen christlichdemokratischen Parteien in Westeuropa zu Promotoren des Wohlfahrtsstaats. Grossen Einfluss übten auch die Enzykliken «Mater et Magistra» (1961) von Papst Johannes XXIII. und «Populorum Progressio» (1967) von Papst Paul VI. aus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten sich in einer lose koordinierten Aktion christlichdemokratische Parteien, die die ersten 30 Jahre der Nachkriegszeit Westeuropas in hohem Masse gestalteten. Vorausgegangen war ein entscheidender Kurswechsel der katholischen Kirche, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endgültig zur demokratischen Staatsform bekannte.3
Aus der bitteren Erfahrung der beiden Weltkriege lehnten die Christlichdemokraten nicht nur den Kommunismus des Sowjetimperiums, sondern auch jeglichen Nationalismus ab, und sie traten von Anfang an für die internationale Zusammenarbeit Westeuropas im Rahmen der Nato ein und stellten Wahlkämpfe mit Erfolg unter das Motto «Freiheit oder Sozialismus».
Damals wurden die Grundsteine für die spätere Europäische Union gelegt, deren Vorgängerinnen während des Kalten Kriegs eindeutig im Zeichen des Antikommunismus standen. Insofern wurde die frühe Geschichte der europäischen Integration – und darin besteht ein breiter Konsens unter Historikern und Sozialwissenschaftlern – wesentlich von christlichdemokratischen Parteien und Politikern gestaltet. Es ist das historische Verdienst der Christlichdemokraten, dass ihre Gründergeneration beim Wiederaufbau Europas seit Beginn der frühen 50er-Jahre führend beteiligt war. Die westeuropäische Integration war in ihren Anfängen zu einem guten Teil das Werk christlich-konservativer Politiker, die durch ihre katholische Sozialisierung und durch ihre christliche Weltanschauung miteinander verbunden waren, gemeinsam einen kompromisslosen Antikommunismus vertraten und sich zur westlichen Demokratie bekannten. Zu nennen ist an erster Stelle das Dreigestirn Robert Schuman (Frankreich), Alcide De Gasperi (Italien) und Konrad Adenauer (Bundesrepublik Deutschland). Für die spätere Zeit ist an Jacques Delors oder Romano Prodi zu erinnern, die beide, obwohl später auf der Linken politisierend, ihre politische Formung in christlich-sozialen Organisationen erhielten.
Sensationelle Wahlerfolge nach 1945
Nach dem Zusammenbruch der faschistischen Diktaturen formte sich 1945 die demokratische Parteienlandschaft Westeuropas neu. Als eigentliche politische Sensation, mit der politische Beobachter nicht gerechnet hatten, traten in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich und Italien christlichdemokratische Parteien auf die politische Bühne, die zwar an die Traditionen des politischen Katholizismus anknüpften, aber das Gemeinwohl und nicht die katholisch geprägte Kirchenpolitik ins Zentrum stellten.4 Die Parteien waren religiös inspiriert, verstanden sich aber – und das war in einzelnen Ländern neu – als säkulare, das heisst politische Formationen.
1943 entstand im befreiten Italien die Democrazia Cristiana (DC), 1944 in Frankreich der Mouvement Républicain Populaire (MRP) und 1945 in Westdeutschland die Christlich-Demokratische beziehungsweise Christlich-Soziale Union (CDU/CSU). Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) löste in Österreich die früheren Christlichsozialen ab. Dazu feierten in Belgien die Christlijke Volkspartij (CVP) und der Parti Chrétien-Social, in den Niederlanden verschiedene christliche Parteien, darunter die Katholische Volkspartei, und in Luxemburg die Christlichsoziale Volkspartei ihre Wiederauferstehung.
Das Kerngebiet der Christlichdemokraten lag in West- und Mitteleuropa und zog sich von den Niederlanden und Flandern dem Rhein entlang über Lothringen und das Elsass in die Alpenländer Österreich und Schweiz bis nach Italien. Auch wenn die Christlichdemokraten unter verschiedenen Namen auftraten und einen schwachen organisatorischen Zusammenhalt besassen, bildeten sie eine Art Internationale. Jedenfalls spotteten ihre parteipolitischen Gegner über das «schwarze» oder «vatikanische» Europa.5
Ihre Glanzzeit erlebten die Christlichdemokraten in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1945 bis 1965 errangen sie Wahlerfolge, die sie später in diesem Ausmass nicht mehr zu wiederholen vermochten. In den Niederlanden erhielten die drei christlichen Parteien 1948 insgesamt 53,4 Prozent der Wahlstimmen, in Österreich kam die Österreichische Volkspartei 1966 auf 48,4 Prozent, in Belgien erreichten die flämischen und wallonischen Christlichdemokraten 1950 47,7 Prozent, in Italien errang die Democrazia Cristiana 1948 48,5 Prozent, und in der Bundesrepublik Deutschland erzielte die CDU/CSU 1957 mit 50,2 Prozent sogar die absolute Mehrheit.6
Transformation zu bürgerlich-konservativen Volksparteien
In den meisten Kernländern der Europäischen Union knüpften die Christlichdemokraten nach der Meinung vieler Historiker (Jean-Marie Mayeur, Emiel Lamberts, John S. Conway u. a.) an frühere katholische Parteien an, die sich zum Teil schon vor 1945 als laikale Parteien begriffen, aber in der faktischen Wirklichkeit stark mit der katholischen Kirche verbunden waren.7
Sieht man von den kleinen christlichen Parteien in den nordischen Ländern ab, spielte der Protestantismus 1945 mit Ausnahme von Westdeutschland in der Gründungsphase eine geringe Rolle.
In den 60er-Jahren begannen sich im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) die christlichdemokratischen Parteien und der politische Katholizismus zu entflechten. Das interkonfessionelle Programm wirkte vor allem im konfessionell fragmentierten Westdeutschland als Integrationskraft, denn die schrecklichen Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur hatten die Annäherung der beiden christlichen Konfessionen beschleunigt. Nach dem Vorbild der deutschen CDU/CSU gaben sich später in den Niederlanden und mit Einschränkungen auch in der Schweiz die christlichen Parteien ebenfalls ein interkonfessionelles Programm. In den Niederlanden bildeten die bisher getrennt marschierenden katholischen und protestantischen Parteien 1980 eine neue Partei unter dem Namen «Christlichdemokratischer Appell» (CDA). In der vom Krieg verschonten Schweiz waren die Hindernisse grösser; die kleine «Evangelische Volkspartei» war nicht gewillt, mit der grossen, katholisch geprägten Volkspartei enger zusammenzuarbeiten, geschweige denn zu fusionieren.
Seit den 70er-Jahren fanden in Westeuropa politische Transformationsprozesse statt, die auf der rechten Seite des Parteienspektrums zum Aufstieg konservativer Parteibewegungen führten. Da sich die C-Parteien auf ein breites christlich-konservatives Elektorat stützten, stürzten diese parteipolitischen Umbrüche die Christlichdemokraten in eine Krise. Die rapide Säkularisierung der europäischen Gesellschaft entzog ihrer christlich fundierten Ideologie die soziale Basis, und die wirtschaftlichen Veränderungen der Globalisierung förderten das alte Links-rechts-Schema. Dazu kam, dass die Individualisierungsprozesse alte Sozialbindungen auflösten.
Bereits in den 50er-Jahren scheiterte in Frankreich der Mouvement Républicain Populaire an der national-konservativen Sammlungsbewegung von General de Gaulle und überlebte bloss als intellektueller Zirkel von christlich-sozial orientierten Politikern.
Bis Anfang der