Auch die deutschen Christlichdemokraten zahlten der konservativen Wende ihren Tribut und wandelten sich spätestens nach 1989 von einer christlichen Weltanschauungs- zu einer bürgerlich-konservativen Sammlungspartei, sie blieben aber mit alternierenden Partnern Regierungspartei. Um die Hälfte geschrumpft, sah die Österreichische Volkspartei Wählerscharen zur rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei abwandern. Ähnliche Verluste mussten die Christlichdemokraten in den Niederlanden und in Belgien hinnehmen. Allerdings verzeichneten die Volkspartei in Österreich unter Wolfgang Schüssel (2000–2007) und die CDA in den Niederlanden unter Jan Pieter Balkenende (2002–2010) nach einer Phase des Abstiegs überraschende Erfolge und stellten den Ministerpräsidenten.
Ob diese Entwicklung als Ende oder Transformation zu bezeichnen ist, lasse ich offen. Eines ist sicher: Die christliche Demokratie macht eine Krise durch. Die sozioökonomischen Veränderungen der Wohlstands- und Konsumgesellschaft lösten Parteiloyalitäten auf und führten zu Wählerfluktuationen in einem vorher nicht gekannten Ausmass. Die 68er-Kulturrevolution hinterliess tiefe Spuren und stellte grundlegende kulturelle Werte und Lebenswelten der Christdemokratie im Bereich von Familie, Sexualität und Moral in Frage.
Die Christlichdemokraten verloren Wähler nach rechts an nationalkonservative und rechtspopulistische Parteien, welche Fragen der nationalen Identität und der Migration ins Zentrum stellten und einen gegen Brüssel-Europa gerichteten Kurs steuerten. Als Zentrumsparteien reagierten die Christlichdemokraten auf die konservative Wende europaweit mit einem Rechtsrutsch und koalierten zum Beispiel in Österreich mit den Rechtspopulisten. Der belgische Historiker Emiel Lamberts situiert die christlichdemokratischen Parteien als linken Flügel des Konservativismus.
Dazu kam, dass die katholische Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil eine Gleichgewichtung der demokratischen Parteien vorgenommen und die frühere Privilegierung katholischer Parteien aufgegeben hatte. Das Konzil betonte die Autonomie und die Pluralität des Politischen, was zur Folge hatte, dass die lokalen Bischofskonferenzen in der Regel Äquidistanz zu den demokratischen Parteien predigten.
Mit dem Ausbau des sozialen Wohlfahrtstaats verloren katholische Annexorganisationen wie Vereine, Krankenkassen, Gewerkschaften und so weiter. ihre soziale Bedeutung für die unterprivilegierten Sozialschichten, gleichzeitig säkularisierten sich die christlichen Gewerkschaften und Krankenkassen selber und distanzierten sich von den christlich orientierten Parteien. Waren die christlichdemokratischen Parteien bis in die 60er-Jahre noch von der Vorstellung der «christlichen Politik» geprägt und strebten indirekt eine Verchristlichung der Gesellschaft an, verwandelten sie sich spätestens seit den 80er-Jahren zu bürgerlich-konservativen Volksparteien mit einer diffusen christlichen Orientierung. In ihrer nachkonfessionellen Epoche waren sie dadurch gekennzeichnet, dass sie sich auf den demokratischen und rechtstaatlichen Grundkonsens und länderspezifische Varianten der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten. Vom christlich-humanistischen Geist blieb oft nur noch die Betonung der Menschenwürde und Menschenrechte. Die fortschreitende Individualisierung und Säkularisierung sowie die Globalisierung mit ihren ökonomischen und sozialen Krisen schwächten die Fundamente, auf denen die C-Parteien aufgebaut waren.8
Ende des goldenen Zeitalters
Der amerikanische Historiker John S. Conway spricht vom Ende der grossen Zeit der Christlichdemokraten. Diesem Befund kann ich beistimmen. Die Christlichdemokraten gerieten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und nach dem Ende des Kalten Kriegs in eine Krise. Mit dem Untergang des Kommunismus verloren sie ihren Feind. Die Christlichdemokraten konnten sich in den Kernländern der Europäischen Union, das heisst in Deutschland, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden sowie in Österreich, als Regierungsparteien halten, sie verschwanden in Frankreich und Italien.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Christlichdemokraten in Spanien und Portugal, in Ländern also, die bis in die 70er-Jahre von Rechtsdiktaturen regiert worden waren, nicht Fuss fassen konnten. In diesen Ländern war die katholische Kirche zu sehr mit den autoritären Regimes verbunden gewesen, als dass Parteien mit christlichem Hintergrund glaubwürdig erschienen wären. Zusätzlich bereiteten parteiinterne Streitigkeiten in Spanien dem christlichdemokratischen Experiment ein unerwartetes Ende.
Auch in Mittel- und Osteuropa waren die demokratischen Strukturen durch die lange kommunistische Herrschaft derart zerstört, dass sich in der ersten Transformationsphase auf der einen Seite liberal-konservative und auf der anderen nationalistische und sozialistische und altkommunistische Parteien formierten. Obwohl die katholische Kirche in Polen über die Solidarność-Bewegung im Kampf für Religionsfreiheit, Menschenrechte und Demokratie eine entscheidende Rolle spielte, entstand keine christlichdemokratische Partei westlichen Musters.
In Europa führt die neuste Entwicklung in Folge der Wirtschaftskrisen zu einer Polarisierung nach dem klassischen Schema von links und rechts. Konservative Parteien traten an die Stelle der Christlichdemokraten, die zwischen die Fronten gerieten oder wie die CDU/CSU den Weg einer bürgerlich-konservativen Sammlungspartei wählten.
Als Fazit kann man festhalten: Die fortschreitende Modernisierung der westlichen Gesellschaft führte zu einer Werte- und Kulturrevolution, die den traditionellen christlichdemokratischen Parteien die ideologische und soziale Basis zu entziehen droht. Da die meisten Parteien auf die Traditionen des politischen Katholizismus zurückblicken, brachte das Zweite Vatikanische Konzil ihr weltanschauliches Selbstverständnis ins Wanken. Die Renaissance konservativer und rechtspopulistischer Parteien seit den 80er-Jahren beschleunigte die Erosion der christlichen Demokratie. So war es folgerichtig, dass sich die christlichdemokratischen Parteien im Europäischen Parlament mit den konservativen Parteien zur «Europäischen Volkspartei» zusammenschlossen. Ohne auf die Debatten der Politologen einzugehen, schliesse ich mich für die CVP den Schlussfolgerungen von Andreas Ladner an, dass die Lipset/Rokkan-These von den «eingefrorenen Parteisystemen» modifiziert, vielleicht sogar aufgegeben und der Blick auf den Wandel geworfen werden sollte.9
Die CVP als Teil der europäischen Parteifamilie
Von der Schweiz war bisher nur am Rand die Rede, obwohl die CVP Schweiz im internationalen Vergleich ein interessantes Fallbeispiel darstellt.10 Mit Ausnahme von Belgien ist die CVP die älteste Regierungspartei der europäischen Christdemokratie und seit 1891 ohne Unterbruch an der Regierung beteiligt. Nach dem Zusammenbruch der absoluten Mehrheit der FDP infolge der ersten Proporzwahlen von 1919 stiegen die Christlichdemokraten zum verlässlichen Juniorpartner des vom Freisinn angeführten antisozialistischen «Bürgerblocks» auf.
Seit 1919 pendelten die Vorgängerparteien der CVP um 21–22 Prozent der Wählerstimmen, 1947 erzielten sie in den ersten Nachkriegswahlen 21,2 Prozent. Im Vergleich zu den Spitzenresultaten der christlichdemokratischen Parteien in Deutschland, Italien und anderen Ländern nahmen sich diese Wahlergebnisse bescheiden aus. Auch als sich die «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei» in Anlehnung an ihre europäischen Schwesternparteien 1970 den Namen «Christlichdemokratische Volkspartei» gab, blieben die Wahlergebnisse im Bereich eines Fünftels, bevor die Partei zu erodieren begann. Welche Merkmale kennzeichnen die CVP und ihre Vorgängerparteien? Ich beantworte diese Frage in diesem Kapitel thesen-, ja schlaglichtartig und vertiefe sie in den folgenden ausführlich.
1. Kontinuität. Der Politikwissenschaftler und ehemalige Generalsekretär der CVP Timotheos Frey schreibt in seiner Dissertation von 2008, dass die Katholisch-Konservativen Anfang der 1970er-Jahre durch die Parteireformen und den Namenswechsel einen «endogen induzierten Wandel» zu einer christlichdemokratischen Partei vollzogen hätten.11 Diese Feststellung stimmt. Als Historiker betone ich im Unterschied zu Frey stärker