Das historische Dilemma der CVP. Urs Altermatt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Altermatt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039198641
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die Katholisch-Konservativen bis in die Weltkriegszeit durchaus heimisch gefühlt hatten, und bewegte sich in die Mitte.

      Allerdings blieb die 1971 feierlich proklamierte Formel von der «dynamischen Mitte» im Alltag der konkreten Politik eine Formel ohne deutliches Profil, da sich die Partei in der Regierung nach rechts und nach links an ihre Koalitionspartner anpasste. Unter dem Druck der Rezession verflüchtigten sich die Konturen der «dynamischen Mitte» als eigenständiger «dritter Weg». Von der Scharnierstellung blieb in den Zeiten der Polarisierung oft wenig übrig, vielfach nur die Dynamik auseinander strebender Parteiflügel. Kritische Beobachter warfen der Partei schon kurz nach den Reformen von 1970/71 vor, sie trage ihr Herz auf der linken Seite, mache aber die Politik mit der rechten Hand – nach dem Motto: links fühlen, rechts handeln und in der Mitte regieren.

      So paradox es tönt: Mit dem politischen Erfolg in der Regierung setzte als Folge des unscharfen Profils eine schleichende Erosion bei den Wählern ein, die die Stellung der CVP als Mehrheiten bildende Regierungspartei aushöhlte. Die eigentliche Zäsur brachte dann der Verlust einer der beiden bisherigen Bundesratssitze, da nun ihre Rolle in der Landesregierung an machtpolitischem Gewicht verlor. 2003 stieg die CVP nach 84 Jahren von der ersten in die zweite Liga der Regierungsparteien ab. Wie der verlorene Bundesratswahlkampf gegen die FDP 2009 (Urs Schwaller gegen Didier Burkhalter) zeigt, handelte es sich dabei nicht nur um einen vorübergehenden Unfall. Der Wiederaufstieg ist beschwerlich.6

      Die CVP-Fraktion der Bundesversammlung ist zusammen mit der belgischen Schwesterpartei die älteste christlichdemokratische Parlamentsgruppe Europas mit ungebrochener Tradition.1 Wie ich bereits im vorausgegangenen Kapitel erläutert habe, reichen ihre Ursprünge in die Anfangsjahre des Bundesstaats von 1848 zurück und sind im Kontext der Kulturkämpfe der Zeitepoche von 1830 bis 1880 zu sehen.2

      Kurze Parteigeschichte

      Die Konflikte um die politische und kulturelle Hegemonie im Bundesstaat liessen nach 1848 auf der einen Seite die Parteifamilie des radikal-liberalen Freisinns und auf der anderen Seite die katholisch- beziehungsweise reformiert-konservativen Parteigruppierungen entstehen.3 Ende des 19. Jahrhunderts löste der Klassenkampf die kulturkämpferischen Konflikte ab, und die Parteien der sozialistischen und kommunistischen Linken entstanden. Damit waren die parteipolitischen Grundstrukturen geschaffen, die die Schweiz bis Ende des 20. Jahrhunderts prägten. Seit den 1990er-Jahren macht die nationale Parteienlandschaft tief greifende Transformationen durch. Auf der rechten Seite des Spektrums etablierte sich die national-konservative «Schweizerische Volkspartei» (SVP) als stärkste Partei.4 Mit der damit verbundenen Polarisierung europäisiert sich das schweizerische Parteiensystem in eine Linke, in eine Rechte und in eine Mitte.

      In der Bundesversammlung konstituierte sich die christlichdemokratische Fraktion im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts unter der Bezeichnung «katholisch-konservativ», allerdings bestand sie in losen Organisationsformen seit der Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848. Von 1848 bis 1872 existierte in den Eidgenössischen Räten eine kleine Gruppe konservativer Parlamentarier, die sich als Gesinnungsgemeinschaft verstand und von Fall zu Fall auch als Aktionsgemeinschaft auftrat. Freilich besass sie noch keine Geschäftsordnung und noch kein formelles Programm. Diskussionen vor wichtigen Parlamentsgeschäften waren dem Zufall überlassen. In den 1850er- und 60er-Jahren beklagten katholisch-konservative Presseorgane den desolaten Zustand der Fraktion.5

      Die 1874 eingeführte Erweiterung der direkten Demokratie machte eine straffere nationale Parteiorganisation zur Mobilisierung der Kräfte notwendig. Wegen ausgeprägter föderalistischer Reflexe der Stammlandkantone bereitete jedoch der gesamtschweizerische Zusammenschluss der Kantonalparteien Schwierigkeiten, sodass verschiedene nationale Gründungsversuche – 1874, 1878, 1881 und 1894 – an internen Rivalitäten zwischen den Stammlanden und dem Diasporakatholizismus scheiterten. Erst 1912 kam es zur endgültigen Gründung der Landespartei.6

      Viel zu reden gab der Name der Partei, worin die strategischen Unsicherheiten der Eliten über den Zweck und das Wählerpotenzial der zu gründenden Parteiorganisation manifest wurden.7 In Anlehnung an die Traditionen politischer Begriffe im 19. Jahrhundert tauften die Christlichdemokraten ihre Partei am Gründungskongress von 1912 «Konservative Volkspartei», denn sie wollten mit dem Etikett «konservativ» eine politische Katholikenpartei bilden, die gleichgesinnten Protestanten offen stand. 1957 benannten sie die Partei in «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei» (KCVP) um, um die Bedeutung der Arbeiter- und Angestelltenflügel im Namen zum Ausdruck zu bringen. Als 1970 in den gesellschaftlichen Transformationen der späten 60er-Jahre der Begriff «konservativ» in Misskredit geraten war, strich die KCVP diese Etikette aus dem offiziellen Parteinamen und wählte in Anlehnung an ihre westeuropäischen Schwesterparteien den heutigen Namen «Christlich-demokratische Volkspartei der Schweiz».8

      A propos «christlich-demokratisch»: Während diese Namensbezeichnung in Europa vor dem Ersten Weltkrieg höchst umstritten war, tauchte sie in den schweizerischen Namensdebatten schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf, fand aber keine Mehrheit, da ihr zur damaligen Zeit eine zu progressive Konnotation anhaftete. Sich «Volkspartei» zu nennen, war den Christlichdemokraten wichtiger – anfänglich im 19. Jahrhundert, um ihre demokratische Opposition gegen das radikal-liberale Regierungssystem zu unterstreichen; nach dem Ersten Weltkrieg, um als Juniorpartnerin der freisinnig-bürgerlich geprägten Landesregierung ihre breite soziale Verankerung in der Bevölkerung und ihre Ausgleichsrolle zwischen dem Liberalismus und Sozialismus zu betonen.

      Aufstieg und Blütezeit der CVP von 1919 bis 1971

      Im eidgenössischen Parlament bildeten die Christlichdemokraten vor dem Ersten Weltkrieg eine Minderheitsgruppierung, denn in der Periode des Majorzwahlsystems dominierte der Freisinn die beiden Kammern, die katholisch-konservative Opposition zählte nicht mehr als ein Viertel der Sitze.

      Nach der Einführung des Proporzes brach die bisherige absolute Mehrheit der freisinnigen Parteifamilie 1919 zusammen. Die FDP erhielt 28,8, die Sozialdemokraten 23,5, die CVP 21,0 und die BGB 15,3 Prozent der Wählerstimmen.9 Vom Ende des Ersten bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Platz der Christlichdemokraten im Parteiengefüge ausserordentlich stabil. 1919 erhielten sie – wie erwähnt – 21,0, 1928 21,4 und im Kriegsjahr 1943 20,8 Prozent des Wähleranteils. Damit behielt die Partei von 1919 bis 1943 hinter den Sozialdemokraten und dem Freisinn konstant den dritten Rang, vor der viertplatzierten Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei.10

      Analog zur westeuropäischen Entwicklung erzielten die Christlichdemokraten in den beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre grössten Wahlerfolge. Allerdings vermochte die CVP im stabilen Mehrparteien-System nie die Wahlerfolge ihrer Schwesterparteien in Westdeutschland, Österreich oder Italien zu erreichen, die in den späten 40er- und in den 50er-Jahren zeitweise über Mehrheiten um 50 Prozent verfügten. Auch nach 1945 behielten die Christlichdemokraten ihren traditionellen Wähleranteil von etwas mehr als 20 Prozent. Das beste Wahlresultat erzielten sie 1963 – während des Zweiten Vatikanischen Konzils – mit 23,4 Prozent. Ihre Wahlerfolge hingen in den 50er-Jahren mit der allgemeinen Konsenspolitik zusammen, die eine Partei des Ausgleichs brauchte. Der wirtschaftliche Aufschwung, der den Ausbau des sozialen Wohlfahrtsstaats mit der Alters-, Hinterlassenen-, und Invalidenrente zuliess, beschleunigte den Weg der CVP zur Zentrumspartei.

      Mitte der 1960er-Jahre erhielt die ausserordentliche Stabilität, die das Parteiensystem bisher ausgezeichnet hatte, erste Risse, ohne dass diese vorerst zu nachhaltigen Umstürzen führten. Die Einbrüche ins Parteiengefüge erfolgten aus drei politischen Richtungen. Zunächst gewann die «nonkonformistische» Opposition des vom Regierungskartell ausgeschlossenen liberal-sozialen Landesrings der Unabhängigen an Stimmen, der in den Nationalratswahlen von 1967 mit 9,1 Prozent seinen Höhepunkt erreichte. In den späten 60er-Jahren bildeten sich als Reaktion auf die zunehmende Fremdenangst im Zusammenhang mit den steigenden Ausländerzahlen (1970: 15,9 Prozent) rechtspopulistische Anti-«Überfremdungs»-Parteien, die 1971 einen Überraschungserfolg erzielten, mit 4,3 Prozent die Republikaner