All das geschieht sehr schnell, diese Abläufe können im Labor nicht nachgestellt werden. Injiziert man zum Beispiel Adrenalin in den Körper, kann nicht nur die Gleichzeitigkeit der Vorgänge nicht reproduziert werden, sondern die injizierte Dosis wäre zu groß und würde zu einer Art Tetanie und dadurch zum Tod führen. Man kommt nicht umhin anzuerkennen, dass der menschliche Körper perfekt darauf ausgerichtet ist, ohne Hilfe des Gehirns zu reagieren. Er häuft Energie an, um zu fliehen, anzugreifen oder – falls das nicht möglich ist – in Schockstarre zu verfallen.
Im selben Augenblick fokussiert sich die Wahrnehmung, die ein jeder von seiner Umgebung hat, um die ganze Aufmerksamkeit auf die Gefahr zu richten. Der Betroffene ist voll und ganz im Hier und Jetzt; all seine Sinne sind geschärft, was ihm erlaubt, seine Umgebung mit einem Maximum an Schärfe wahrzunehmen. Sein angeborenes Wissen (und nicht Vernunft oder Denkkraft) diktiert ihm, was er tun kann, um der Gefahr so gut wie möglich zu entkommen, um seine Haut zu retten und die Risiken zu begrenzen. In diesem Moment ist er frei von Angst; ihm stehen maximale Aufmerksamkeit und eine große Energiemenge zur Verfügung. Gleichzeitig verspürt dieser Jemand Emotionen, vor allem eine große Wut, die umso stärker ist, je unmöglicher es wird, sie rauszulassen – dadurch würde man sein Leben ja noch mehr gefährden. So kommt es gleichzeitig zu einer übermäßigen Aktivierung und einer Verengung.12
Ich habe drei Absätze gebraucht, um zu beschreiben, was blitzschnell im Körper und im Kopf eines Menschen abläuft. Das in den drei Absätzen Beschriebene – und das möchte ich noch einmal betonen – dauert nicht länger als ein Schnipsen mit den Fingern! Ein Sekundenbruchteil genügt, damit ein Mensch zur Tat schreitet, also angreift, flüchtet oder vor Schreck erstarrt.
Angriff und Flucht setzen einen guten Teil der verfügbaren Energie frei, was es dem Opfer erlaubt, sein Leben zu retten. Während des Angriffs oder der Flucht empfindet ein Mensch keinerlei Angst, er ist total in den Moment eingebunden. Jeder hat schon einmal von Menschen gehört, die unglaubliche Lasten hochstemmen, um ihr Leben rennen oder Hindernisse überwinden, die sie unter normalen Umständen nicht bewältigen würden. Im Nachhinein sind sie oft selbst davon überrascht. Dann wird ihnen klar, dass sie über zahlreiche Fähigkeiten verfügen, von denen sie gar nichts wussten. Sie machen sich bewusst, wie viel Energie sie angesichts solcher Bedrohungen mobilisieren können.
Die Schockstarre
Neben Angriff und Flucht gibt es eine dritte Möglichkeit, die einem Betroffenen das Leben retten und die Schäden angesichts eines traumatischen Ereignisses begrenzen kann: erstarren. Diese automatische Abwehrreaktion führt zu einer Art Lähmung, die teilweise oder total ist. Noch einmal: Der Betroffene verspürt im Moment des Geschehens keinerlei Angst, da er komplett im Hier und Jetzt ist und all seine Sinne maximal geschärft sind.
Es kommt vor, dass bestimmte Menschen sich alles vonseiten des Aggressors gefallen lassen und keinerlei Widerstand zeigen. Bei anderen geht es sogar so weit, dass sie körperlich nichts fühlen und manchmal aus sich heraustreten, das heißt, sie sehen ihrem Tun oder dem des Aggressors zu, als seien sie nicht mehr im eigenen Körper. Wieder andere reden, um den Aggressor zu beruhigen. Fachsprachlich wird so etwas Dissoziation genannt. Sie bewirkt, dass das Nervensystem vergleichbar ruhig bleibt, damit das Phänomen der Verengung nicht in Gang kommt. Tritt ein lebensbedrohliches Ereignis ein, schützt die Dissoziation vor Todesangst. In ihrer leichtesten Form äußert sie sich als eine Art von Distanzierung. Im schlimmsten Fall kann sie zu einer Persönlichkeitsspaltung führen. Sie führt immer zu einer Verzerrung der Zeit und der Wahrnehmung. Die Dissoziation ist ein subtiler Abwehrmechanismus, der von Opfern immer wieder und mit dem Ziel angewendet wird, eine traumatische Erfahrung zu überleben, die das Erträgliche übersteigt. Menschen, die in ihrer Kindheit geschlagen wurden, gelingt es mithilfe der Dissoziation, Schläge nicht mehr zu spüren. Die Dissoziation ist dann eine Art spontaner Schutz und eine Überlebensstrategie.
Die Schockstarre ist eine Handlung, die man automatisch vollzieht, genau wie Flucht oder Angriff. In den Augen eines Beobachters sieht das Ganze vielleicht eher nach einem Nicht-Handeln aus. Man hat den Eindruck, der Betroffene unterwirft sich oder akzeptiert die Aggression. Dabei ist das überhaupt nicht der Fall! Eine solche Wahrnehmung erklärt aber, warum Menschen, die erstarrt sind, sich ihre Reaktion allzu häufig im Nachhinein vorwerfen oder – was noch schlimmer ist – von ihrem Umfeld oder bestimmten Therapeuten Vorwürfe zu hören bekommen.
Die meisten Menschen sehen in Flucht und Angriff logische und rationale Entscheidungen, während die Schockstarre unlogisch und irrationell erscheint. Diese Urteile entbehren jeder Grundlage und kommen von Menschen, die nichts über die Mechanismen wissen, welche beim Menschen die Reaktion auf ein traumatisches Ereignis regeln.
Nehmen wir das Beispiel einer Person, der eine Vergewaltigung droht. Im Moment der Gefahr empfindet sie keinerlei Angst. Sie ist ganz im Hier und Jetzt, hellwach, voll einsatzbereit. Sie ist nicht in der Zukunft, denkt nicht rückblickend an ihre Ängste und weilt nicht in der Vergangenheit, um sich zu fragen, was sie getan haben könnte, um sich in dieser Situation wiederzufinden. Sie ist da, voll und ganz da. Im Bruchteil einer Sekunde begreift sie, dass weder Flucht noch Angriff möglich sind, um ihr Überleben sicherzustellen. Ihr bleibt eine dritte Möglichkeit: erstarren, wie gelähmt innehalten. Diese Entscheidung geschieht nicht willentlich, sie drängt sich ihr ganz selbstverständlich auf, um ihr zu ermöglichen, die eigene Haut zu retten. In diesem Moment ist die Schockstarre die geeignetste Reaktion, um die Vergewaltigung mit einem Minimum an Schaden zu ertragen, sowohl in körperlicher als auch in psychischer Hinsicht. Dieser ganze Prozess läuft automatisch und rein instinktiv ab. Das Erstarren drängt sich unter diesen Umständen förmlich als sinnvollste Reaktion auf. Sie ermöglicht es dem betroffenen Menschen, so wenig wie möglich zu leiden. Jedes Opfer von körperlicher Gewalt, das mit Schockstarre reagiert hat, kann das bezeugen.
Auch emotional erstarrt man
Verfällt ein Mensch in Schockstarre, blockiert er alle zur Verfügung stehende Energie und kann sie weder teilweise noch ganz freisetzen, wie das bei jemandem ist, der flieht oder angreift. Das erstarrte Opfer steht also nach dem traumatischen Ereignis mit der festgesetzten, blockierten Energie da und riskiert so, allerlei Komplikationen davonzutragen, von denen wir später sprechen werden.
Was verspürt das Opfer während des Übergriffs, egal, welche automatische Reaktion sich ihm aufdrängt? Meistens oder sogar immer empfindet es ein starkes Gefühl der Erniedrigung, das absolut nicht mit dem vergleichbar ist, was man im Alltag verspürt, wenn man uns herabsetzt. Dieses Gefühl ist widerlich und furchtbar destruktiv, denn es kommt von der Ohnmacht des Opfers gegenüber dem Aggressor, davon, dass es ihm ausgeliefert ist, während der andere die Macht hat. Das Opfer wird zum Spielball, mit dem der Aggressor sich amüsieren und den er all seinen Launen unterwerfen kann, ohne dass eine Reaktion möglich wäre. Die Erniedrigung ist bei Opfern, die erstarren, noch ausgeprägter; sie prägt sich sehr tief ein. Welche durch die Erniedrigung hervorgebrachte Emotion verbirgt sich letztendlich hinter dieser Schockstarre? Eine enorme, kolossale, riesige Wut, die in der Regel nicht zum Ausdruck gebracht, nicht ausgelebt und nicht gezeigt wird. Mit anderen Worten: Auch sie erstarrt im Innern der Betroffenen.
Es mag überraschen, dass die Opfer bei und nach dem traumatischen Ereignis Wut empfinden und nicht Angst oder Kummer. In der Tat tritt keine Angst auf, denn der Betroffene konzentriert sich ganz auf den Augenblick, das haben wir gesehen. Angesichts des Aggressors empfindet das Opfer keine Traurigkeit, sondern heftigen Zorn, eine unbändige Wut und das starke Verlangen, ihm die Macht zu nehmen, die er über das Opfer hat.
Alle Opfer von Gewalt und alle Menschen, die ein traumatisches Ereignis durchlebt haben, reagieren nach den in diesem Kapitel beschriebenen Mechanismen.
Wie aber sieht es bei Menschen aus, die