Die Unkenntnis der Ärzteschaft
Wir haben bereits gesehen, dass die PTBS eine neue und folglich nicht gerade bekannte Krankheit ist. Das erklärt zum Teil, warum die Diagnose nicht häufig gestellt wird. Außerdem hat die Schulmedizin die ärgerliche Angewohnheit, nicht nach den für die Symptome verantwortlichen Ursachen zu forschen, sondern sich mit der Behandlung derselben zu begnügen. Sicher, wenn jemand verkündet, er sei Opfer eines Attentats oder als Soldat verletzt worden, wird eine PTBS erkannt. Aber es geht um Ursachen, die subtiler sind oder nicht so direkt mit den Symptomen zusammenhängen. Dann kommt es oft zu einer falschen Diagnose … Und dann wird der Patient auch falsch behandelt.
Psycho-traumatische Erkrankungen werden verkannt, unterschätzt und selten von der Ärzteschaft aufgespürt und richtig diagnostiziert. Letztere wurde nämlich während ihres Studiums nicht für diese Art Erkrankung geschult. Es handelt sich ja um spezifische Störungen; wer sie diagnostizieren will, bedarf genauer Kenntnisse der Zusammenhänge zwischen Trauma und Gedächtnis, die sich hauptsächlich in teilweise vagen Erinnerungen an die Gewalt zeigen, die das Opfer direkt oder indirekt erlebt hat. Sie können sehr weit zurückreichen, man denke nur an misshandelte Kinder.
In jedem Fall muss eine Behandlung so schnell wie möglich erfolgen, denn mit der Zeit tauchen mehr und mehr Symptome auf, es kommt zu immer mehr und immer hartnäckigeren Komplikationen. Die Folge davon ist, dass zum Beispiel Jugendliche Schwierigkeiten beim Lernen haben, verringerte kognitive Fähigkeiten, Probleme im sozialen Umfeld, ein erhöhtes Risiko, abhängig oder kriminell und erneut Opfer von Gewalt zu werden oder selbst darauf zurückzugreifen. All das erschwert ein Leben und führt zu Verletzungen und schwerwiegenden Benachteiligungen.
Ein wohlwollender, aber ahnungsloser Arzt mag aus bestimmten Symptomen gar auf eine psychotische Persönlichkeit schließen. Das führt zu einer irrigen Diagnose und absolut desaströsen Behandlungsmethoden. Nicht ungewöhnlich ist auch, bestimmte Reaktionen oder Verhaltensweisen eines Betroffenen zu verharmlosen: Der Arzt schreibt sie fälschlicherweise der Persönlichkeit zu oder der Tatsache, dass das Opfer eine schwierige Phase durchmacht, dass es sich vielleicht um einen hochsensiblen Menschen handelt, etc.
Ein weiterer Faktor spielt bei der geringen Zahl an PTBS-Diagnosen eine Rolle: Die bekannten Behandlungsmethoden wirken nicht, und das macht den behandelnden Arzt noch ratloser. Was tun, um dem Patienten zu helfen? Ihn zum Psychiater schicken, in der Hoffnung, dieser möge seinen seelischen Zustand verbessern? Ihm Arzneimittel verschreiben, damit er weniger Angst hat oder weniger Rückenschmerzen?
Ein letzter Punkt macht alles noch komplizierter: Der Patient möchte, dass es ihm so schnell wie möglich besser geht und er so wenig wie möglich leidet, und er möchte nicht einhundert Mal erklären müssen, was sein Problem ist. Er neigt also zu immer knapperen Aussagen, um schneller an die Behandlung zu kommen, die er für die wirksamste hält. „Ich schlafe schlecht, also brauche ich ein Schlafmittel“ – „Mir tun die Gelenke weh, also brauche ich Entzündungshemmer“ usw. In seinem Umfeld rät man ihm zu dieser und jener Therapie, weshalb er sie ausprobiert, ohne Erfolg. Da sich innerhalb kurzer Zeit keine Besserung einstellt, gibt er auf. Vertraut er sich seinem Arzt an, meint dieser, einen Medizintouristen vor sich zu haben, der alles ohne große Überzeugung ausprobiert. Natürlich neigt er dazu, ihn nicht allzu ernst zu nehmen.
Die Unkenntnis der Öffentlichkeit
Es gibt noch einen letzten Faktor, um die wenigen PTBS-Diagnosen zu erklären: Die breite Öffentlichkeit hat keine Kenntnis von diesem komplexen Krankheitsbild. Die Medien fangen gerade erst an, sich für die PTBS zu interessieren, vor allem aufgrund der terroristischen Anschläge, die verschiedene Teile der Welt erschüttert haben: Amerika, Europa, Afrika, Russland, Asien und den Mittleren Osten. Sind diese tragischen Ereignisse noch frisch, werden sie ausführlich abgehandelt. Man konstatiert aber auch eine gewisse Zurückhaltung, wenn es darum geht, über bestimmte Tatsachen zu sprechen, die oft Monate oder gar Jahre nach diesen Ereignissen auftauchen: Dann ist es ja nicht mehr aktuell, und man braucht viel mehr Fingerspitzengefühl. Manche Medien rühren auch nicht gern an eine düstere Vergangenheit. Sie finden, dass man nach vorn blicken sollte, um die Bevölkerung nicht zu traumatisieren. Dieses Argument leuchtet aber nicht ein, denn schließlich ist die Bevölkerung ja bereits traumatisiert.
Nach den New Yorker Anschlägen von 2001 haben verschiedene Studien gezeigt, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung an Schlafstörungen litt und Angststörungen entwickelt hatte. Es scheint mir doch wichtig, dass die Medien ihre Rolle spielen, um die Situation zu entspannen. Sie sollten ihre Leser, Hörer oder Zuschauer über die Tatsache aufklären, dass es in Folge eines direkt oder indirekt erlebten Traumas zu solchen Erscheinungen kommen kann. Viel zu viele Medien verschweigen die Informationen, die sie erhalten, und zwar aus Gründen, die für sie stichhaltig, in meinen Augen aber nicht zielführend sind. Wie viele Polizisten oder Notärzte werden krankgeschrieben und müssen sich behandeln lassen, nachdem sie ein Attentat oder dessen Folgen erlebt haben? Was tut man für sie? Wie wird ihnen geholfen? Sind sie wieder in den Beruf zurückgekehrt?
All diese Fragen könnten einer breiten Öffentlichkeit helfen, sich die reale Existenz der PTBS vor Augen zu führen. Es ist notwendig, sich damit zu beschäftigen, damit konkrete Taten angestoßen werden, die den Opfern helfen. Das würde natürlich Geld kosten, aber mittelfristig könnten auch große Summen eingespart werden. Denken wir nur an den Rückgang der Fehltage …
Kapitel 3
Die drei möglichen Reaktionen auf ein traumatisches Ereignis
Es ist wichtig, genau zu entschlüsseln, was vor sich geht, wenn ein Mensch einem traumatischen Ereignis ausgesetzt ist, sei es nun eine Naturkatastrophe oder ein zwischenmenschlicher Vorfall. Der Behandlungserfolg hängt nämlich von dem genauen Verständnis der Mechanismen ab.
Im Angesicht einer Gefahr reagieren Menschen und Tiere gleich; es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen. Drei Arten zu reagieren sind möglich:
❶ Angriff
❷ Flucht
❸ Schockstarre
Diese Reaktionen sind nicht erlernt oder erworben, sondern angeboren, sie erfolgen automatisch. Das analytische Gehirn (der Neocortex) spielt in diesem entscheidenden Moment überhaupt keine Rolle. Es ist wichtig, das hervorzuheben. Die Auswahl zwischen diesen drei Reaktionen findet also nicht auf der Grundlage einer Analyse oder eines Denkvorgangs statt; sie ist ein reiner Reflex.
Betroffene können zwei der Reaktionen zeigen. So kann man zuerst die Flucht ergreifen und in Schockstarre verfallen, sobald man spürt, dass Ersteres nicht weiterführt. Oder jemand geht zum Angriff über und erstarrt dann. Angriff und Flucht sind bekannte Reaktionen, die Schockstarre ist weit weniger bekannt.
Peter A. Levine bringt die Situation, in der sich ein Opfer gegenüber einem Angreifer wiederfindet, sehr gut auf den Punkt:
„Bei primitiven und universellen Verteidigungsmethoden spricht man von ‚Flucht- und Angriffsstrategien‘. Sie geschehen reflexhaft … Wenn Flucht oder Angriff die Sicherheit des Tieres nicht länger gewährleisten können, gibt es eine weitere Verteidigungsstrategie: das Nicht-Bewegen (Schockstarre), das genauso universell und essenziell für das Überleben ist. Aus unerklärlichen Gründen wird weder in biologischen noch in psychologischen Abhandlungen groß über diese Verteidigungsstrategie gesprochen. Sie ist genauso wirksam wie die beiden anderen und kann sich in vielen Situationen sogar als bessere Wahl erweisen. Auf biologischer Ebene ist Erfolg nicht gleichbedeutend mit Gewinnen, sondern mit Überleben, egal wie. Die Natur fällt kein Urteil über die gewählte Strategie. Kein Tier und auch kein Mensch kann bewusst kontrollieren, ob man angesichts der Bedrohung in Schockstarre fällt oder nicht.“11
Angriff und Flucht
Was geht im Körper eines Menschen vor sich, der ein Trauma erlebt? In Sekundenbruchteilen laufen eine ganze Reihe von Reaktionen simultan ab. Nehmen