Das Ende des Tunnels. Dr. med. Daniel Dufour. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dr. med. Daniel Dufour
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783863744953
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verstehen, da sie nicht das Gleiche durchgemacht haben und sich also nicht vorstellen können, was das bedeutet. Ein Feuerwehrmann wird seiner Frau oder seinen Freunden nicht erklären, wie das ist, jemandem nach einem Unfall aus einem Auto zu schneiden, denn das erscheint ihm für jemanden, der es nicht selbst erlebt hat, nicht nachvollziehbar. Genauso wenig wird ein Vergewaltigungsopfer jemandem, der so etwas nicht erlebt hat, genau beschreiben können, was dabei in seinem Körper und seinem Kopf vorging.

      ► Im Beruf gilt es häufig als Schwäche, nach einem Einsatz selbst zu leiden. Folglich wird der Betroffene es nicht wagen, seinen Kollegen einzugestehen, was er wirklich empfindet. Und sicher wird er auch nicht mit Vorgesetzten darüber reden, aus Angst, verurteilt zu werden oder als unfähig zu gelten, sich auf allen Ebenen weiterzuentwickeln. Die allermeisten Menschen werden also im beruflichen Umfeld ihre Symptome verbergen, solange es geht.

      ► Menschen, die ein Attentat oder eine Geiselnahme überlebt haben, wagen es eher nicht, sich zu beklagen: Entweder schätzen sie sich glücklich, noch am Leben zu sein, oder sie finden, dass sie hätten sterben sollen, weil die Verstorbenen es angeblich eher verdient hätten zu überleben.

      Das mangelnde Verständnis des Umfeldes

      Das soziale Umfeld ist ein wichtiger Faktor für das Schweigen der Opfer. Die Haltung Nahestehender kann sie aus verschiedenen Gründen zu der Überzeugung bringen, dass Schweigen die beste Strategie ist.

      ► Das Umfeld kann dem Opfer dieses oder jenes Verhalten vorwerfen. „Warum bist du nicht weggelaufen? Warum hast du nicht anders reagiert?” Eine solche Reaktion vergrößert das Schuldbewusstsein und die Scham des Opfers noch, und zwar umso mehr, als es sich diese Fragen auch selbst stellt.

      ► Das Umfeld versucht vielleicht, dem Opfer gut zuzureden, indem man als Außenstehender logisch oder rational argumentiert, was aber in den Augen des Opfers keinerlei Sinn ergibt: „Du hast dein Möglichstes getan, da solltest du dir dieses oder jenes nicht vorwerfen.” – „Du hast Glück, dass du dieses Trauma überlebt hast, sei lieber dankbar, als dir vorzuwerfen, überlebt zu haben.” Als Opfer weiß man das auch, was aber nicht verhindert, von irrationalen Gedanken oder Reue heimgesucht zu werden.

      ► Das Umfeld kann Verhalten und Aussagen des Opfers nicht nachvollziehen, die oft als „total übertrieben und exzessiv” empfunden werden.

      ► Das Umfeld kommt eine Zeit lang damit klar, dass ein Opfer sich nicht gut fühlt, verliert aber irgendwann die Geduld, weil die Dinge mit ein bisschen gutem Willen und weniger Verzagtheit für das Opfer doch nach und nach besser laufen sollten. Was sich als Irrtum erweist. Um den offensichtlich mangelnden Willen zur Genesung und zum Blick nach vorn hervorzuheben, werden dem Opfer gegenüber offen Vorwürfe erhoben oder auch nur Andeutungen gemacht, was oft noch schlimmer ist.

      ► Das Umfeld kann ungeduldig sein und verlangen, dem Opfer möge es sofort besser gehen. Durch das bestehende Trauma beim Gegenüber fühlt man sich gezwungen, sich mit einem kranken Menschen abzugeben, der anscheinend nichts tut, damit es ihm besser geht, der sich zurückzieht und abkapselt, und das trotz aller Fürsorglichkeit.

      Das Gesetz des Schweigens im Beruf

      Es ist schon verblüffend, wie selten die PTBS in den sogenannten „Risikogruppen“ thematisiert wird.

      In der Ausbildung wird das Risiko PTBS in der Regel nicht angesprochen, oder aber es wird nicht mit dem ausgeübten Beruf in Verbindung gebracht. Dieses „Versäumnis“ war nachvollziehbar, solange es noch gar keine Bezeichnung für die PTBS gab. Aber heutzutage ist es unentschuldbar. Eines der gern angeführten Argumente ist das folgende: Lieber klärt man das Personal nicht über das Risiko auf, an einer PTBS zu erkranken, weil die Rekruten sich sonst beim geringsten Verdacht krankschreiben lassen. Diese Sichtweise ist häufig die ranghöherer, altgedienter Kollegen, die „das selbst durchmachen mussten und sich auch nicht wegen jeder Kleinigkeit haben krankschreiben lassen“. Sie werden einem erklären, dass sie angesichts der Probleme, mit denen sie es zu tun hatten, hart sein oder reagieren mussten. Die Neuen auf die Möglichkeit einer PTBS vorzubereiten, sei nicht der beste Weg. Lieber behandeln als vorbeugen, heißt es dann!

      Mit einigen solchen Personen hatte auch ich ernsthaft zu tun, und ich konnte feststellen, dass auch sie an einer PTBS litten, sich dessen aber gar nicht bewusst waren (oder zumindest so taten). Dabei waren sie wegen Bluthochdrucks, chronischer Rückenbeschwerden oder anderer Krankheiten in Behandlung. Den Zusammenhang zwischen ihren gesundheitlichen Problemen und der Ursache erkannten sie nicht. Ich werfe ihnen das wahrlich nicht vor, schließlich hat es ihnen niemand gesagt, schon gar nicht ein Arzt!

      Von so manchem Vorgesetzten wird es gar nicht gern gesehen, dass Mitarbeiter sich beschweren oder von sich sagen, dass bestimmte berufliche Einsätze ihnen Probleme bereiten. Das kommt einem Eingeständnis von Schwäche gleich, was sanktioniert wird: durch Ausschluss, Karrierestopp oder Ausgrenzung unter dem Vorwand, Betroffene zu schützen. Ein Polizist sagte mir, „es kommt ja einem Eingeständnis der eigenen Schwäche gleich, die Treppen zu dem Stockwerk hochzusteigen, in dem die Seelenklempner sitzen. Und das führt früher oder später zu irgendeiner Sanktion, alles unter dem Deckmantel des Schweigens.“ Ob diese Einschätzung des Opfers nun zu Recht oder zu Unrecht besteht, sie kann einen Teufelskreis in Gang setzen: Die Kollegen decken den angeschlagenen Mitarbeiter und machen seine Arbeit mit, was zu Überlastung führt. Dadurch kann die ganze Gruppe geschwächt werden. Oder aber der Betroffene verbirgt seine Krankheit, indem er auf Medikamente oder Substanzen zurückgreift, die es ihm ermöglichen durchzuhalten, bis die Nebenwirkungen die Oberhand gewinnen oder sich das Leiden nicht länger verstecken lässt. In beiden Fällen leidet nicht nur die Umgebung, sondern die Betroffenen erleben auch eine Verschlimmerung ihres Zustands. Die finanzielle Belastung für das Umfeld ist bedeutend, was wiederum den Druck auf die Mitarbeiter erhöht. Dieser Teufelskreis findet sich leider in vielen Berufen.

      Im Gespräch mit verschiedenen Arbeitgebern habe ich dreierlei feststellen können.

      ❶ Bei den meisten heißt es, sie stellen dem Personal Ansprechpartner zur Verfügung, erfahrene Mitarbeiter (peer support), mit denen Betroffene über ihre Probleme sprechen können. Solche Ansprechpartner sind natürlich sehr nützlich, vor allem in der kritischen Phase direkt nach einem traumatischen Ereignis. Sie können aber keinesfalls die therapeutische Betreuung ersetzen, die von Fachleuten erbracht wird, welche sich gut mit der PTBS auskennen. Solche Ansprechpartner dienen den Arbeitgebern eigentlich nur als Ausrede. So können sie vorgeben, sich um ihre Mitarbeiter zu kümmern.

      ❷ Wenn ich mit Angestellten sprach, erwähnten die meisten Kollegen, die nach einem schlimmen traumatischen Erlebnis an Depressionen oder anderen Erkrankungen litten. Diese Kollegen waren angeblich bei ihrem Hausarzt in Behandlung. Das Problem war bekannt und schien relativ häufig vorzukommen. Doch diese Angestellten vertrauten sich mir nur an, weil sie wussten, dass ich nicht offiziell mit der Unternehmensleitung sprechen würde …

      ❸ Nach zahlreichen Gesprächen mit leitenden Mitarbeitern konnte ich feststellen, dass die Aussagen manchmal radikal voneinander abweichen. So kommt es zum Beispiel vor, dass die offizielle Abwesenheitsquote nicht dem entspricht, was man aus informellen Gesprächen mit den Angestellten heraushört, denn aufgrund unterschiedlich gehandhabter Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall ergibt es sich, dass die Fehltage nicht immer in den Statistiken auftauchen. Es kommt auch vor, dass solche Statistiken einfach nicht zur Verfügung stehen – nicht, weil der jeweilige Arbeitgeber das nicht will, sondern weil die Zahl der Mitarbeiter, die an einer PTBS erkrankt sind, einfach nicht bekannt ist.

      Leider gilt auch im Beruf eine schnöde Wahrheit: Die Angestellten wissen sehr wohl um die Tatsache, dass sie bei ihrer Arbeit schwierige und potenziell traumatisierende Szenen erleben können, sie haben diesen Beruf aus freien Stücken gewählt und erhalten ein entsprechendes Gehalt. Der Arbeitgeber seinerseits ist für strukturelle Fehlfunktionen verantwortlich, nicht aber für die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit seiner Angestellten, von Arbeitsunfällen einmal abgesehen. Mit Ausnahme bestimmter Berufsgruppen wie Soldaten, die aus Kriegsgebieten zurückkehren, gilt eine PTBS nicht als Berufskrankheit. Ein Mitarbeiter einer humanitären Hilfsorganisation mag von einem Einsatz zurückkehren und Symptome zeigen, die auf eine PTBS hindeuten. Aber sein Arbeitgeber wird sich nicht