MESSIAS
Was sich die Jünger unter diesem Titel vorstellen, ist nicht leicht zu sagen, da die alttestamentlichen Messiasvorstellungen keine eindeutige Gestalt umreißen und im Frühjudentum noch stärker auseinanderdriften. In der Zeit ab etwa 150 v. Chr. wuchs unter den Frommen die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Theokratie mit einer Doppelspitze: ein Hoherpriester aus priesterlichem Geschlecht und ein König aus dem Haus Davids. Beide haben sie die Aufgabe, die Sünder im eigenen Volk zu züchtigen und Jerusalem von den Heidenvölkern zu reinigen. In den Qumrantexten, Zeugnissen des antiken Juden- und frühen Christentums aus den Jahren 250 v. Chr. bis 40 n. Chr., sind dagegen geistliche Würde und weltliche Kriegsführung auf die beiden Führer aufgeteilt: Während der priesterliche Gesalbte Sühne für das Volk schafft und es belehrt, richtet der als Spross Davids bezeichnete königliche Messias die Königsherrschaft Israels wieder auf. Auf diesen bezieht sich die Weissagung Bileams, eines auch außerbiblisch bezeugten heidnischen Propheten zur Zeit des Mose (Num 24,17): Ich sehe ihn, aber nicht jetzt; ich schaue ihn, aber nicht von nahem. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen und wird zerschmettern die Schläfen der Moabiter und den Scheitel aller Söhne Sets. Der königliche Messias ist zwar dem priesterlichen Gesalbten nachgeordnet, doch ist zur Zeit Jesu angesichts der realen Verhältnisse, d. h. der Herrschaft des fremdstämmigen Herodes und der römischen Vormacht, der kriegerische Messias aus dem Hause David in den Vordergrund getreten. Es liegt nahe, dass die Jünger Jesu im Großen und Ganzen im Mainstream der Erwartung eines politischen Messias lagen, der die Römer vertreibt, für Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum sorgt, alles zum Guten wendet und das Volk sammelt und heiligt. Damit ein aus den Menschen geborener Messiaskönig diese Mission erfüllen kann, geht die Apokalyptik (siehe S. 32) noch einen Schritt weiter: Sie verschmilzt den politischen Messias mit der himmlischen Gestalt des Menschensohnes (Dan 7), der nach dem Sieg, den Gott herbeiführt, ewige Herrschaft über alle Völker bekommt.
AMBIVALENZ
Bei diesen Perspektiven liegt es nahe, dass die Jünger die Frage beschäftigt, was es ihnen persönlich „bringt“, dem Messias nachzufolgen: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israel richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen (Mt 19,28f). Bei dieser Perspektive ist es kein Wunder, dass die Zwölf über ihren Rang in der Gruppe der Apostel nachdenken, Konkurrenten von „außen“, die sich nicht den Mühen und Spannungen der Nachfolge unterziehen, ausschließen wollen (Mk 9) und sich wünschen, zur Rechten und Linken des Messias zu herrschen, wenn dieser die Macht in Israel übernimmt (Mk 10).
Großartige Horizonte also auf der einen Seite. Auf der anderen Seite aber war der Weg mit Jesus immer wieder verunsichernd, eine Infragestellung der Vorstellungen der Jünger und alles andere als bequem. Er ist ein Stück Passion, in der ein Jünger Jesu grundsätzlich lebt: das Ertragen einer grundsätzlichen Ambivalenz. Eigentlich ist Ambivalenz ein Grundprinzip des Menschseins schlechthin. Es zu bejahen bedeutet, Spannung auszuhalten. Das vermeiden wir Menschen gerne. Die Jünger müssen es bei Jesus jedoch lernen: Sie folgen einem Mann nach, der selber nichts hat, der auf Mildtätigkeit und Gastfreundschaft angewiesen ist. Wie er haben auch sie keinen Ort, wo sie ihr Haupt hinlegen können. Tun, wozu man Lust hat, und das Leben genießen sieht anders aus. Also heißt es, sich in den Rahmen zu fügen und das „Sowohl … alsauch …“ auszuhalten. Jesu Klarheit und Wahrheit fordern sie heraus: Immer wieder schilt er sie wegen ihres kleinen Glaubens, wenn sie sich z. B. Sorgen ums Essen oder ums Übernachten (Lk 9,56) machen. Oder er deckt ihren Wunsch nach Ansehen und Position auf (Mk 9,33), dem er entgegenhält: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein (Mk 9,35), statt andere zu unterdrücken oder seine Macht zu missbrauchen, wie es bei denen üblich ist, die Macht und Ansehen besitzen (Mk 10,42f). Und dann stellt er ihnen auch noch ein Kind, ein nutzloses, Kinderkrankheiten ausgesetztes und deshalb dem Tode nahes, damals gering geschätztes Kind vor Augen: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen (Mt 18,3). Schluss damit, sich selbst dadurch aufzubauen, dass man auf andere herabblickt und den Splitter in ihrem Auge findet oder sie für seine Zwecke gebraucht: für seine Lust, seinen Profit, seine Bequemlichkeit.
Jesu Verkündigung konnte manchmal hart sein: Dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher ins Reich Gottes gelangt (Mk 10,25), jagt den Jüngern Schrecken ein: Streben nicht alle nach Sicherheit und nach dem Besitz der dazu nötigen Mittel? Da müssen sie auch um sich selbst fürchten, auch wenn sie alles verlassen haben, um Jesus nachzufolgen. Oder folgendes Wort aus der sogenannten Brotrede (Joh 6,53f): Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Viele konnten dieses Wort nicht verstehen – sollte das eine Anleitung zum Kannibalismus sein? – und wenn sie es verstanden, konnten sie nicht akzeptieren, dass das ewige Leben, das sie suchten, nur über Gleichwerden mit Jesu Tod zu finden sein sollte. Um den Tod zu finden, waren sie doch nicht mit Jesus gegangen: Sie wollten Leben in Fülle! So verließen ihn viele, die bisher mit ihm gewandert waren. Die Zwölf blieben, aber kaum unbeschwerten Herzens.
Oft verstanden sie ihn nicht: Wieso wehrte er ab, als Messias bezeichnet zu werden? Seine Gleichnisse musste er ihnen ebenso privat erklären wie sein Verständnis der damals von den Pharisäern gepushten kultischen Reinheit: Die wirkliche Unreinheit vor Gott kommt von den bösen Regungen des Herzens. Nicht der Dreck an Händen und Schüsseln trennt den Menschen von Gott, sondern Taten aus inneren Impulsen, in denen einer das Seine auf Kosten anderer sucht. Sie verstanden nicht, wieso Jesus die Gefährlichkeit der Lehren der Pharisäer und des Herodes mehr beschäftigte als die unmittelbar bedrängende Frage nach dem täglichen Brot für sie selbst (Mk 8,15). Nicht nur die synoptischen Evangelien, auch das Johannesevangelium lässt immer wieder durchblicken, dass die Jünger mit ihrem Verständnis Jesus hinterherhinken: Philippus möchte den Vater gezeigt bekommen und Jesus reagiert mit einer Spitze: Schon so lange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater (Joh 14,9). In den sogenannten Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 14–16), dem letzten Zusammensein mit Jesus, wollen die Jünger die letzte Gelegenheit nutzen, ihre offenen Fragen zu klären (Joh 14,5.8.22; 16,5.17), und glauben schließlich, Jesus nun endgültig zu verstehen. Doch erweist sich auch diesmal ihr Verstehen als vorläufig, und es hat auch nicht die Kraft in sich, dass sie in der Versuchung bei ihm bleiben können (Joh 16, 31f). Denn der Jünger muss immer weiter wachsen, um die Botschaft Jesu immer mehr tragen zu können (Joh 16,12). Ist das nicht merkwürdig, ja paradox, wenn eine frohe Botschaft getragen, ja ertragen werden muss? Das zu oberflächliche Erfassen oder gar Missverstehen von Wort und Person Jesu hat dann wohl eine Funktion, einen geheimen Zweck, der darin bestehen dürfte, keine Verunsicherung oder Angst ertragen zu müssen. Denn gründliches Verstehen setzt voraus, sich selber in Frage stellen zu lassen, dabei zu entdecken, dass manche eigenen