Die hier im Anschluss an das Johannesevangelium angedeutete Suchbewegung wird von Bertram Dickerhof in dem vorliegenden Buch auf breiter biblischer Basis (besonders der Bergpredigt und des „Vater unser“) eindringlich entfaltet und auf menschliches Verhalten hin ausgelegt. Dieses kurze Geleitwort will ein Anstoß sein, das Buch erwartungsvoll in die Hand zu nehmen und sich in den einzelnen Teilen jeweils neu von der in Jesus bleibenden Liebe Gottes ansprechen und bewegen zu lassen.
Erhard Kunz SJ
Prolog
Zu allen Zeiten und in allen Gegenden der Welt verspürten und verspüren Menschen eine Sehnsucht, die durch nichts auf der Welt zu erfüllen ist, weil sie über alles Irdische hinausgeht. Sie kann erweckt werden durch Glück, das im Leben erfahren wird und nach Ewigkeit ruft. Oder durch im Alltag erlebten Sinn, der das Verlangen erweckt nach einem umfassenden und absoluten Sinn, der allem zu Grunde liegt. Irdische Ungerechtigkeit dürstet nach wahrer Gerechtigkeit, irdische Liebe ersehnt ewige Vollendung, irdisches Leid braucht verwandelnde Versöhnung der Existenz.
Die Schriften aller Religionen bezeugen die Erfahrungen und Einsichten von Menschen, die zu allen Zeiten einen Weg suchten zur Erfüllung dieser Sehnsucht. Diese Sehnsucht hat auch mich vor vielen Jahren ergriffen. Ich bin ihr gefolgt und habe dabei neu zum Christlichen gefunden. Bei aller Hochachtung für die anderen Religionen und bei aller Dankbarkeit für die Bereicherung durch sie ist das Christliche, ist Jesus von Nazareth der für mich maßgebliche Orientierungsrahmen. Ein solcher ist nötig. Denn die Sehnsucht hört nicht auf, und der Weg zu ihrer Erfüllung zieht sich durchs ganze Leben.
Die Grundzüge dieses Suchens finden sich bereits auf den ersten Seiten des Neuen Testaments in der Legende von den Sterndeutern, den Magiern aus dem Osten. Aus einem ganz anderen Kulturkreis stammend, stehen sie der Welt des Judentums vor 2000 Jahren ähnlich fremd gegenüber wie wir heute. Bar kultureller Eigenheiten betrifft ihre Suche das Menschsein überhaupt. So können wir uns in ihr wiederfinden und sie begleiten. Mit ihrer Geschichte soll unsere „Suche nach dem Kern des Christlichen“ beginnen:
Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, siehe, da kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem. Er ließ alle Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes zusammenkommen und erkundigte sich bei ihnen, wo der Christus geboren werden solle. Sie antworteten ihm: in Betlehem in Judäa; denn so steht es geschrieben bei dem Propheten: Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel. Danach rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich und ließ sich von ihnen genau sagen, wann der Stern erschienen war. Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: Geht und forscht sorgfältig nach dem Kind; und wenn ihr es gefunden habt, berichtet mir, damit auch ich hingehe und ihm huldige! Nach diesen Worten des Königs machten sie sich auf den Weg. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her. Als sie den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten ihm. Dann holten sie ihre Schätze hervor und brachten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben dar. Weil ihnen aber im Traum geboten wurde, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land (Mt 2,1–12).1
Die „Magier aus dem Osten“ – hier wohl deshalb mit Sterndeuter übersetzt, um das Missverständnis zu vermeiden, sie hätten etwas mit Magie zu tun – werden Angehörige der persischen Priesterkaste oder Philosophen östlicher Weisheit gewesen sein, die im Hellenismus, anders als in Israel, hoch im Kurs stand. Wenn man auch nichts Genaueres weiß, so handelt es sich bei ihnen jedenfalls um hochrangige und gebildete Menschen. Der Text ist gut gegliedert durch die zwei Stationen der Reise. Die erste Station in Jerusalem wird ausführlich geschildert, auf der zweiten in Bethlehem liegt dagegen das Gewicht: sie steht am Ende des Textes. Der gesamte Weg wird auf diese Weise in drei Abschnitte unterteilt, wobei die Anreise nach Jerusalem nur im Rückblick vorausgesetzt und die Rückreise nach Hause gerade eben erwähnt wird. Auch den Anlass der Reise erfahren wir nur in der Retrospektive: Die Magier haben einen Stern aufgehen sehen und ihn als Zeichen für den neugeborenen Judenkönig gedeutet. Nun wollen sie ihm huldigen.
Diese Erklärung verwundert. Was haben solche Magier mit dem Kleinkind des Herrschers eines weit entfernten Landes zu tun, das überdies von den Römern besetzt ist? Dass sie außerdem dem Baby „huldigen“ wollen, ergibt auf der Ebene des Politischen, Sozialen, Kulturellen … keinen Sinn. Auch kann der Stern kein Stern im Sinne eines „selbstleuchtenden Himmelskörpers großer Masse“ (Wikipedia) sein. Der biblische Stern wird es nämlich fertigbringen, über der Geburtsstätte des neugeborenen Judenkönigs stehen zu bleiben. Naheliegender ist es aus diesen Gründen, den aufgehenden Stern mit einem Erleben dieser drei Menschen zu verbinden, das so bedeutsam für sie ist, dass es die Kraft hat, sie zu einer langen und gefährlichen Reise zu bewegen, an deren Ende sie erwarten, dem Gefundenen zu „huldigen“, d. h. seine Größe anzuerkennen und sich ihm zu unterwerfen. Etwas vom ersehnten Ende ihrer Reise muss sie getroffen haben. Ist ihnen dabei vielleicht Transzendenz aufgegangen, die wir ohnehin mit dem Sternenhimmel, seiner Unendlichkeit, seiner Erhabenheit, seiner Unergründlichkeit und Unverfügbarkeit in Verbindung bringen? Womöglich haben sie etwas Ähnliches erlebt wie der russische Soldat, von dem die folgenden Zeilen stammen, die in den Kleidern des Gefallenen gefunden wurden:
„Hörst du mich, Gott? Noch nie sprach ich mit dir … Doch heute, heut will ich dich begrüßen. Du weißt, von Kindertagen an sagte man mir, dich gebe es nicht. Und ich, ich glaubte es. Narr, der ich war. Die Schönheit deiner Schöpfung ging mir niemals auf.
Doch heute Nacht nahm ich ihn wahr, vom Grund des aufgerissenen Kraters, den Sternenhimmel über mir. Und ich verstand staunend sein Gefunkel … dies Wunder, dass mitten in der schauerlichen Hölle das Herz mir leicht wurde und ich dich erkannte. Sonst weiß ich dir nichts zu sagen, nur, dass ich so froh wurde, als ich dich erkannte. Mir war so wohl bei dir.“2 Immer wieder geschieht es, dass Transzendenz in den Alltag eines Menschen einbricht und sein Herz mit Glück, Schmerz und Verlangen erfüllt.
Haben unsere drei Magier eine solche Transzendenzerfahrung gemacht? Dazu würde ihre Deutung vom „neugeborenen König der Juden“ passen. Der König wurde in besonderer Nähe zur Gottheit eines Volkes gesehen, in deren Sinn er ja regieren soll, und die Juden waren jenes Volk, das eine einzige transzendente Gottheit verehrte, die kein Bild darstellen und kein Name benennen konnte. Außerdem kann eine Transzendenzerfahrung die Sehnsucht wecken, zu suchen, was über alles hinaus ist, ihm zu huldigen und dabei auch bei seinem wahren Selbst anzukommen.
Auf Grund ihrer Deutung wissen die drei Magier, dass sie nach Jerusalem ziehen müssen, um den neugeborenen Judenkönig zu finden. Der Stern taucht bei diesem Teil der Reise nicht auf. Wozu auch? Die Magier brauchen ihn nicht. Sie meinen zu wissen, wohin sie zu gehen haben.
Und so scheitert ihre Suche. Jerusalem ist nicht ganz falsch, aber kein neugeborener König ist an ihrem Ziel. Niemand in Jerusalem weiß etwas von ihm. Die Botschaft, die ihr Fragen nach ihm enthält, ist schlecht für die Eliten: ein neugeborener König könnte die Machtverhältnisse umkehren, die Gewohnheiten stören, die Besitzstände gefährden, jedenfalls eine Verschlechterung ihrer Verhältnisse bedeuten. Entsprechend ist Jerusalem Enttäuschung, Widerstand und Feindseligkeit für die Magier, die darauf mit Lähmung, Angst und Ohnmacht reagieren werden. Jedenfalls treten sie in der langen Textpassage, die in Jerusalem spielt, als Handlungssubjekte nicht mehr auf. Auf Veranlassung