Der Schoppenfetzer und die Satansrebe. Günter Huth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429063993
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müssen. Und auch das Hausgesinde mussten sie bis auf zwei Mägde reduzieren.

      Mit dem Ärmel ihres Nachthemdes wischte Margarete ihm den Schweiß aus dem Gesicht.

      „Danke“, murmelte er leise und löste sich aus ihrer Umarmung. Schwerfällig erhob er sich und setzte sich auf den Bettrand.

      „Wo willst du hin?“, fragte Margarete besorgt.

      „Schlaf weiter“, gab er knapp zurück. „Ich muss einen Schluck trinken. Ich habe einen trockenen Mund.“ Mit einer langsamen Bewegung strich er sich die langen gelockten Haare aus dem Gesicht, dann griff er zu seinen Beinkleidern.

      „Warte, ich helfe dir“, sagte Margarete und machte Anstalten, das Bett zu verlassen.

      „Lass“, gab er fast barsch zurück. Sie wusste, wie sehr er es hasste, seine Gebrechlichkeit vor Augen geführt zu bekommen. Bedrückt blieb sie liegen. Es war für sie nur schwer zu ertragen, dass er nach diesen Träumen von Schlaflosigkeit gequält wurde, die ihn hinunter in seine Werkstatt trieb, wo er dann bis zum Tagesanbruch saß und seine Werkzeuge anstarrte, die er einst so meisterlich zu führen gewusst hatte.

      Tilman Riemenschneider verließ das Schlafgemach und tastete sich durch das dunkle Haus in die Küche. An der Glut des Küchenherdes entzündete er einen Kienspan und damit die Kerzen eines Leuchters. Langsam tappte er hinunter in das Kellergewölbe seines Hauses, in dem sich seine private Werkstatt befand. Die große Werkstatt, in der bis vor noch nicht allzu langer Zeit zahlreiche Gesellen gearbeitet hatten, befand sich in einem Anbau des Hofes zum Wolfmannsziechlein in der Franziskanergasse, wo er einstmals als leuchtender Stern am Firmament der bildenden Künste in Würzburg und Umgebung gestrahlt hatte.

      Er stellte den Leuchter auf einen Tisch und ließ sich auf einen Hocker nieder. Aus einem Krug schenkte er sich Wein in einen Becher ein und nahm einen Schluck. Der Lichtschein fiel auf die Werkzeuge, die ordentlich an der Wand aufgehängt waren. In eine Werkbank eingespannt, befand sich ein Block aus Lindenholz, der bereits Spuren einer Bearbeitung zeigte. Vorsichtig fuhren seine Finger über das Holz. Monate war es her, dass er einen Stichel und einen Schlegel in der Hand gehalten hatte. Er nahm einen weiteren Schluck.

      Um das Jahr 1500 hatte er als Künstler in der näheren Umgebung von Würzburg einen hervorragenden Ruf erlangt und war zu einem wohlhabenden und angesehenen Bürger aufgestiegen. Die Aufträge waren reichlich gekommen, so dass er sie kaum hatte bewältigen können. Er hatte in Würzburg mehrere Häuser besessen, reichlich Grundbesitz mit eigenen Weinbergen und eine florierende Werkstatt. Als er 1504 in den Rat der Stadt Würzburg berufen worden war, befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Durch diese öffentlichen Ämter und die Privilegien als Ratsherr, die er zwanzig Jahre lang genoss, hatte er nicht nur sein gesellschaftliches Ansehen gemehrt, sondern auch viele große und lukrative Aufträge bekommen. Von 1520 bis 1524 hatte er sogar das Amt des Bürgermeisters der Stadt inne.

      Das Übel und sein Niedergang hatten begonnen, als in den zwanziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts auch in Würzburg die Reformation Einzug gehalten hatte.

      Der Fürstbischof residierte hoch über der Stadt in der Feste Marienberg und führte ein strenges Regiment gegen alle aufwieglerischen Entwicklungen. Zu jener Zeit hatte der Rat der Stadt mit zunehmender Tendenz immer wieder im Zwist mit dem mächtigen Herrn gelegen. Die Situation war außer Kontrolle geraten, als sich 1525 aufständische Bauern vor der Stadt versammelt hatten, gegen den Fürstbischof ins Feld gezogen waren und dieser schließlich fliehen musste. Die Würzburger Bürger hatten sich mit den Bauern verbündet, aber mit diesen eine schreckliche Niederlage erlitten, als das Bauernheer in einer großen Schlacht vernichtet wurde. Die Erde des Schlachtfelds war vom Blut der getöteten Bauern getränkt worden. Die Truppen des Fürstbischofs hatten die Stadt angegriffen und zurückerobert. Der Fürstbischof hatte grausames Gericht unter den Bürgern gehalten und deren vollständige Unterwerfung gefordert. Auch die beteiligten Ratsherren waren eingekerkert und teilweise grausam bestraft worden.

      So war auch Tilman Riemenschneider in Haft geraten und gerichtet worden. Zwar war er mit dem Leben davongekommen, hatte aber große Teile seines Hab und Guts verloren – und auch seinen guten Ruf als Künstler. Seine meist kirchlichen Auftraggeber hatten ihn links liegen lassen und so dafür gesorgt, dass er immer mehr in Vergessenheit geraten war.

      Tilman Riemenschneider erhob sich schwerfällig und ging in die Ecke seiner Werkstatt, wo sich das Steinlager befand. Der hochgewachsene Mann ging dabei so gebeugt, als müsse er eine schwer Last auf seinen Schultern tragen. Der gesellschaftliche Absturz hatte seine Seele zerstört. Freunde, die einstmals gern seine Gesellschaft gesucht und seine Gastfreundschaft genossen hatten, mieden ihn und sein Haus.

      Riemenschneider war ein gläubiger Mensch gewesen. Die Folgen seiner Haft und seiner Bestrafung hatten jedoch seine Gesinnung gewandelt. Was der hohe Herr auf der Festung im Namen Gottes für Grausamkeiten an den Bauern, den Menschen der Stadt und letztlich auch an ihm begangen hatte, war einfach nicht zu verzeihen.

      Tilman Riemenschneider betrachtete die Steine, die in verschiedenen Größen vorrätig waren. Er entschied sich schließlich für eine kleine Tafel aus Kalkstein, die ihm für seine Zwecke geeignet erschien.

      Er setzte sich wieder auf seinen Hocker und vertiefte sich in die Maserungen der Steintafel. Er wollte ein letztes Werk schaffen, das er jenen widmen würde, die an seinem Unglück Schuld trugen. Kein Werk der Liebe und der Verehrung Gottes, wie es immer seine Motivation gewesen war. Nein, in diese Arbeit wollte er all den Hass und den Zorn hineinlegen, den er tief in seinem Inneren empfand. Er wollte ein Werk schaffen, das den Fluch verkörpert, mit dem er Tag und Nacht in seinen schmerzerfüllten, schlaflosen Nächten die verhasste Obrigkeit auf dem Marienberg belegte.

      Meister Til spannte die Steintafel in eine Werkbank ein, dann suchte er sorgfältig einen geeigneten Meißel aus. In seinem Kopf war schon seit Tagen ein Bild herangereift, das er nun zu realisieren gedachte. Dies sollte seine letzte Bildhauerarbeit werden. Mit steifen Fingern führte er die ersten Schläge mit dem Holzschlägel aus. Niemand würde dieses Werk vor seinem Tod zu Gesicht bekommen.

      Fast 500 Jahre später in Würzburg

      Der Mann betätigte den Lichtschalter und die paarweise angeordneten Neonleuchten ergossen ihr grelles Licht über die Regale, Schränke und aufgestapelten Kisten. Dieser Raum war einer der zahlreichen klimatisierten Magazinräume des Mainfränkischen Museums, in denen eine Vielzahl von Exponaten aufbewahrt wurde, die noch nie den Weg in die Ausstellungsräume des Museums gefunden hatten.

      Der Mann musste sich keine große Mühe geben, seinen Aufenthalt in diesem Bereich des Museums zu verheimlichen. Er besaß völlig legal einen Schlüssel. Zudem war es Montag und das Museum für den Publikumsverkehr geschlossen. Es war bereits nach 19 Uhr und die Wahrscheinlichkeit, dass sich um diese Uhrzeit jemand vom wissenschaftlichen Personal hierherverirrte, tendierte gegen null.

      Schnell hatte er den gesuchten Gegenstand gefunden. Der Grabstein lagerte fachmännisch auf mehreren gepolsterten Balken und war sorgfältig abgedeckt. Der Mann lüftete die Folie und warf einen flüchtigen Blick auf die vom Zahn der Zeit stark angegriffene Inschrift:

       „Anno domini 1531 am abent Kiliani starb der ersam und kunstreich Tilman Riemenschneider bildhauer, burger zu Würzburg, dem got genedig sey. Amen.“

      An der Decke des Raumes befand sich eine Laufkatze, mit deren Hilfe sich schwere Gegenstände in diesem Magazin heben und bewegen ließen. Der Mann führte zwei stabile, weich gepolsterte Gurte unter dem Stein hindurch und betätigte die Hebevorrichtung. Als er den Stein an der Außenkante anhob, um ihn erst auf die Seite zu stellen und dann auf die Vorderfront zu legen, traten ihm vor Anstrengung die Sehnen am Hals hervor. Er keuchte. Schließlich hatte er es geschafft. Langsam ließ er die Steinplatte wieder herab. Nun holte er aus der mitgeführten Werkzeugtasche einen Akkubohrer, der mit einem sehr dünnen Steinbohrer bestückt war. Er nahm kurz Maß, dann setzte er den Bohrer an. Das Material war nicht sonderlich hart und der Bohrer drang problemlos ein. Nach wenigen Zentimetern fuhr der Bohrer ins Leere. Er war offensichtlich richtig informiert: In der