»Papa hat gesagt, dass es jetzt aufwärts geht.«
»Wie aufwärts?«
»Bald sind wir reich.«
»Habt ihr im Lotto gewonnen?«
Anstatt mit Liane den Trampelpfad zu benutzen, streifte Jimmy durchs Gras, als sei er direkt einem Ego-Shooter entsprungen. Er stoppte und linste über die Halme hinweg: »Ich meine wegen der Fabrik.«
»Hat dein Daddy etwa Aktien gekauft?«
»Der will dort arbeiten.«
»Pförtner werden nicht reich.«
»Mein Papa ist Automechaniker, also.«
Liane Pfabe, die nicht nur zwei Klassen über Jimmy war, sondern ihm auch auf den Kopf hätte spucken können, teilte seinen Enthusiasmus nicht im Mindesten. »Die Fabrik steht doch erst in hundert Jahren.«
»Nein«, protestierte er, »nächstes Jahr schon.«
»Hast du ’ne Peilung, was für ’n Palast das wird?«
»Klar, so groß wie Ikea.«
»Ikea ist mini dagegen.«
Jimmy stoppte und seine riesigen Augen wurden hinter den Brillengläsern noch größer. Liane knickte die Arme ein, verschränkte die Hände hinter den Brustlatz ihrer Jeans und erinnerte ihn daran, dass am Flughafen Berlin Brandenburg seit 2006 gebaut wurde.
»Ja und?«
»Da warst du nicht mal geboren.«
»Aber du, oder wie?«
»Ich war immerhin ein süßes Baby.«
Während Jimmy Kotzlaute imitierte, entfaltete sich in Lianes Gedanken eine Urkunde, die sie im Schrank ihrer Mutter entdeckt hatte. Das kleinformatige Papier trug die Aufschrift: Erik Beimer. 1. Platz im 100-Meter-Lauf. Sportfest des Dunker-Gymnasiums. Liane kannte weder einen Erik Beimer noch hatte sie ihre Mutter jemals von einer Person dieses Namens reden gehört. Eine innere Stimme flüsterte ihr, dass es sich bei dem Gewinner um ihren Erzeuger handelte, einen Mann, den sie nie hatte kennenlernen dürfen. Ihr leuchtete kein anderer Grund ein, weshalb ihre Mutter die Urkunde sonst hätte aufheben sollen. Als Liane sich später das Dokument noch mal hatte ansehen wollen, war es verschwunden gewesen. Bis heute hatte sie ihre Mutter nicht darauf angesprochen; die Angst, nicht die Urkunde, sondern ihre Schnüffelei würde zum Thema des Gesprächs werden, ließ sie schweigen.
»Mein Papa hat trotzdem recht«, fuhr Jimmy in ihre Gedanken. »Nächstes Jahr sind die fertig.«
»Klingt ziemlich naiv«, entgegnete Liane.
»Ich hab neulich in Mathe ’ne Eins gehabt.«
»Und kannst du deswegen hellsehen?«
»Frau Petzold meinte, ich bin der Beste.«
»Dann heiratet doch.«
Jimmy gab von Neuem Kotzlaute von sich. Liane und er hatten trotz unterschiedlicher Klassenstufen dieselbe Mathelehrerin, und wer Frau Petzold kannte, würde den Gedanken an eine Heirat immer mit einem Würgereiz begrüßen. Eigentlich war sie längst über das Alter hinaus, in dem man sich über Lehrer und Lehrerinnen lustig machte; nur lebten in Kuxwinkel keine anderen Teenager; nach Jimmy und Liane war die jüngste Person ihre eigene Mutter.
»Weißt du, was meine Mutti meint?«
»Nee.«
»Das Klügste ist, man zieht hier weg.«
»Dann kann sie ja nicht in der Fabrik arbeiten.«
»Hast du mir gerade zugehört?«
Jimmys Augen hoben sich über das Grün, als visiere er ein fernes Ziel an.
»Wenn die Fabrik fertig ist«, erklärte Liane, »sind deine Eltern längst tot.«
»Du spinnst ja.«
»Ich sag nur Flughafen.«
»Papa lügt nicht, niemals.«
»Alle Eltern lügen.«
»Mein Papa nicht.«
Jimmy tauchte wieder ab und allein die Bewegung der Grashalme verriet seine Position. In betont ironischem Tonfall meinte Liane, sein Vater sage natürlich die Wahrheit.
»Na also«, erwiderte er.
»Was also?«
»Also hab ich recht.«
»Wir haben beide recht.«
»Das geht nicht.«
»Okay«, sagte Liane versöhnlich. »Du hast heute recht und ich morgen.«
Er sprang aus der Deckung hervor und seine Brillengläser reflektierten das klare Licht der Vormittagssonne. »Und wenn du morgen stirbst?«, fragte er. »Hab ich dann für immer recht?«
Der Trampelpfad mündete in eine ungepflasterte Straße. Jimmy verblieb im Schutz des Grases, bis er sicher zu sein schien, dass keine feindlichen Truppen patrouillierten. Mit einem Winken signalisierte er ihr, die Gegend sei sauber; dann huschte er über die Fahrbahn und verschwand auf der anderen Seite im Gras. Würden sie nicht dem Pfad, sondern der Straße folgen, wären sie binnen zehn Minuten wieder in Kuxwinkel; jetzt aber entfernten sie sich Stück für Stück von den Häusern und Höfen, von ihren Nachbarn und Eltern.
»Liane?«
»Ja.«
»Wusstest du, dass Elektroautos brennen können?«
»Alle Autos können brennen.«
»E-Autos fahren ohne Benzin.«
»Ach ja, hab ich vergessen.«
Jimmy richtete sich auf und fokussierte sie so eindringlich, dass sie nicht umhin kam, ihn nach dem Grund zu fragen.
»Akkubrand«, antwortete er. »In England ist sogar ein Mensch gestorben.«
»In seinem Auto?«
»Ja, verbrannt.«
»Oh, Shit.«
»Seine Frau hat die Firma verklagt.«
Liane rupfte die verdorrte Ähre eines Grashalms ab und zerbröselte sie zwischen ihren Fingern.
»Auf eine Million Dollar«, ergänzte Jimmy ehrfurchtsvoll.
»Das bringt den Mann auch nicht zurück.«
»Dafür kann sie für immer in den Urlaub fahren.«
»Und ist Witwe. Für immer.«
Jimmy senkte den Blick und sein dunkler Pony fächerte ihm über die Brille. Manchmal fürchtete Liane, er würde ihren Worten zu viel Wichtigkeit beimessen, insbesondere, wenn sie bloß daherschwafelte oder einen Scherz machte. Jimmy war die Ernsthaftigkeit in Person. »Ich wette«, fügte sie rasch hinzu, »die Witwe lässt richtig die Sau raus. Auf Mallorca. Oder in Las Vegas. Eine Million Dollar!« Ihre Begeisterung war bühnenreif und unter Jimmys Brille formte sich ein Grinsen.
Sie bot ihm ein Fisherman’s Friend an und er langte katzenhaft zu. Dann huschte er zurück ins Gras und wurde wieder unsichtbar. Liane winkelte die Arme an und verschränkte die Finger hinter dem Hosenlatz – auf diese Art zu gehen, verlieh ihr ein Gefühl der Erhabenheit. Ein verdächtiges Rascheln im Ohr, fragte sie ihn, weshalb er ausgerechnet zu den alten Ställen wolle.
»Wirste gleich sehen«, antwortete er.
»Wollen wir nicht lieber zocken?«
»Ich darf nicht.«
»Wer sagt das?«
Jimmy wich der Frage aus, indem er verkündete, dass ihr gleich die Spucke wegbleiben würde.
»Hast du den Spruch aus dem Museum?«
»Wieso?