Nacht im Kopf. Christoph Heiden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Heiden
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839269626
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zwischen Fuß und Scheuerleiste fixiert und ihn so lange mit der Axt bearbeitet, bis das Holz splitterte; dann hatte er die Rückwand herausgetreten und die Meereslandschaft eigenhändig zerrissen. Einer der Fetzen war durch die Stube gesaust, genau dorthin, wo zwei Besucher ihn fassungslos anstarrten.

      Willy schenkte ihm ein Nicken; mehr war nicht drin, was dieser Mike sofort zu begreifen schien. Er sank zurück auf den Stuhl, ohne sein Lächeln abzustellen.

      »Ich nehm mal an«, sagte Willy, »Sie sind Annas Neuer.«

      »Wohl mehr gebraucht als neu.«

      »Ah, gebraucht und witzig?«

      »Willy, was soll das?«, entgegnete Anna.

      »Braucht dein Neuer etwa ’ne Beschützerin?«

      Mike hob die Brauen, bevor er den Blick, anscheinend peinlich berührt, zur Seite wandte. Willy musterte ihn ohne jede Scheu, von seinem zugeknöpften Hemd über das weiche Kinn hinauf zu seinem Stirnband. Der Fremde musterte wiederum die Küche. Seines Erachtens war es ein abschätziger Blick, gerade so, als sitze er in der Bruchbude eines Hinterwäldlers; dabei hatte Willy erst vor Kurzem das Spülbecken geputzt, den Grünspan vom Wasserhahn entfernt und das rostige Herdgitter gegen ein neues ausgetauscht; selbst die Gardinen waren gewaschen und die Fenster geputzt. Gewiss würde dieser Mike das alles übersehen, mit voller Absicht natürlich.

      »Schick hast du alles gemacht«, sagte Anna.

      »Danke«, knirschte er. »Bekomm ich jetzt ’nen Preis?«

      »Ich meine das ehrlich. Es gefällt mir.«

      »Ihre Plattensammlung ist auch nicht ohne«, sagte Mike und Willy rang sich ein zweites »Danke« ab.

      Er beobachtete, wie der Mann mit einer beiläufigen Zärtlichkeit über Annas Handrücken strich, gleichzeitig machte sich in seiner Kehle ein schwaches Sodbrennen bemerkbar. Obwohl er wusste, dass er jetzt auf Kaffee verzichten sollte, schenkte er sich nach.

      »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Anna.

      »Ja, alles bestens.«

      »Und was sollte das nun?«

      Er rieb sich den Bauch und linste zur Anrichte. Das Röhrchen mit dem Magnesium war leer; die letzten Tabletten hatte er eingeworfen, nachdem sein Magen auf den ersten Wutanfall reagiert hatte. Das war gestern gewesen, irgendwann gegen acht. Er glaubte, aus Mikes Blick ein tiefes Bedauern zu lesen, doch war Mitleid das Letzte, was er von diesem Typen haben mochte. Er rutschte vor und erkundigte sich bei Anna, weshalb sie hier sei.

      »Wann bist du zuletzt in Gollwitz gewesen?«, fragte sie zurück.

      »Keine Ahnung. Ist lange her.«

      »Und deine Kneipenbesuche?«

      »Da kriegen mich keine zehn Pferde rein.«

      »Immer noch Ärger mit den Nachbarn?«

      »Ich und Gollwitz, das passt einfach nicht.«

      Er hakte nach, was sie dort wolle, und schickte hinterher, sie solle ihm nicht ausweichen. Er sei zwar alt, aber nicht senil.

      »Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Anna.

      »Willst du deine Familie besuchen?«

      Anna verzog keine Miene.

      »Das Gutshaus läuft bestimmt gut.«

      Ihm fielen ihre unterschiedlich großen Augen auf, das linke viel kleiner als das rechte. Das war die Anna Majakowski, die er kannte, die vor dreieinhalb Jahren in Gollwitz aufgetaucht war, allein, verunsichert und mit einem Rucksack voller Fragen. Damals hatte er sie auf dem Friedhof abgefangen und sie war nicht in sein Haus eingedrungen. Unangekündigt und mit einem Fremden im Schlepptau. Er spürte das Brennen in seiner Kehle, blickte automatisch zur Anrichte, wo nur das leere Röhrchen lag, und atmete schwer aus. Als er Anna erneut nach dem Anlass ihres Besuchs fragen wollte, sah er, dass die Frau von damals verschwunden war. Mike strich ihr über das Knie, eine geradezu einfühlsame Geste, die Willy sogleich zu deuten wusste: Mir tut der alte Mann ebenso leid. Schade um ihn. War vielleicht mal ein kompetenter Bursche.

      »Ich hab euch nicht eingeladen«, sagte er grob, erhob sich und schlurfte aus der Küche, ehe ihn eine andere Regung übermannen konnte.

      Er steuerte in die Schlafstube, warf die Tür hinter sich zu und setzte sich mit dem Rücken zum Eingang aufs Bett. Letzte Woche hatte er es frisch bezogen, hatte Kopfkissen und Decke in saubere Wäsche gestülpt und über beide Matratzen ein Laken gespannt. Jahrelang war es ihm unmöglich gewesen, Evas Hälfte herzurichten; für ihn hatte es stets einen Geschmack von Verrat gehabt – an 40 Jahren Ehe, an seinem Schwur, ihr auf ewig die Treue zu halten, an Eva selbst.

      Er umklammerte die Bettkante und starrte gegen die Wand. Auch wenn die Tapete schief angebracht war oder der Lack auf den Fensterrahmen nicht richtig deckte, hatte die Schlafstube den Neuanfang unterstreichen sollen. Er hatte sich ernsthaft bemüht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hatte Ordnung schaffen wollen, so wie es Eva sich von ihm gewünscht und erwartet hätte. Mit erstarkter Lebensfreude hatte er sämtliche Schränke und Kommoden ausgemistet, hatte längst vergessene Schubladen geöffnet und deren Inhalt nach Ramsch und Kostbarkeiten sortiert. Gestern war er dabei auf das verdammte Buch gestoßen.

      Das Öffnen der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

      »Willy«, sagte Anna, »alles in Ordnung?«

      Er hörte sie eintreten und erstarrte am ganzen Körper. Sie schloss von innen die Tür, hielt aber respektvollen Abstand zu ihm.

      »Sollen wir wieder fahren?«

      Das Ja wollte ihm bereits von der Zunge springen. Dann ereilte ihm die Erinnerung, wie Anna und er in seinem Opel unterwegs gewesen waren; er hatte ihr geholfen und sie hatte ihm geholfen, damals auf der Jagd nach dem Mörder ihrer leiblichen Eltern. Mit dieser Erinnerung verschaffte sich eine Idee Gehör, die er am Morgen ersonnen, doch rasch wieder verworfen hatte.

      »Hast du Zeit?«, fragte er.

      »Ja, klar«, antwortete sie.

      »Wirklich?«

      »Warum denn nicht?«

      Er zeigte auf die Stelle, an der früher das Puzzle gehangen hatte, und räusperte sich affektiert. »Das ist ein Geschenk für Eva gewesen«, sagte er. »Da war sie schon krank, sehr, sehr krank. Bevor sie gegangen ist, hat sie es noch fertig gepuzzelt. Ich hab’s letzten Monat in die Wohnstube gehangen, damit’s nicht die ganze Zeit im Dunkeln hängt.«

      »Das hätte sie bestimmt gefreut.«

      »Da verwette ich meine Socken drauf.« Er lachte. »Sie hat immer behauptet, ich hätte kein Händchen fürs Schöne. Ich sei mehr der Mann fürs Grobe. Sozusagen ein Grobian. Na ja, wenn sie jetzt das Haus sehen könnte, würde sie sich ziemlich wundern.«

      »Und warum hast du das Puzzle kaputt geschlagen?«

      »Weil sie ’ne Hexe gewesen ist. So einfach.«

      Er schaute beharrlich in eine andere Richtung, wollte nicht, dass Anna merkte, wie er seine Aggression zu unterdrücken versuchte. Die schief angebrachte Tapete, der schludrig aufgetragene Fensterlack – das alles dämpfte seine Wut nicht mehr. Augenscheinlich hatte er allein nichts auf die Reihe bekommen. Mit dieser Erkenntnis wurde ihm Annas Besuch ein Zeichen, eine Fügung des Schicksals. Mit ihrer Hilfe würde er seinen Plan verwirklichen. Nun spürte er ihre Gegenwart ganz deutlich im Rücken. Ja, Anna war hierhergekommen, um ihm zu helfen.

      »Lass uns nach Kuxwinkel fahren.«

      »Kuxwinkel? Wo soll das sein?«

      »Ein paar Kilometer Richtung Osten.«

      »Hab ich noch nie von gehört.«

      »Musst du auch nicht. Ist ein Fliegenschiss.«

      »Und was willst du da?«

      »Dem Lehrer einen Besuch abstatten.«

      Anna