Nacht im Kopf. Christoph Heiden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Heiden
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839269626
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Nein, entschied Jannes. Heute war sein Tag. Diesmal würde er nicht einknicken, und wenn sie ihn schon zu dieser Feier genötigt hatte, sollte sie auch die Konsequenzen tragen.

      »1995«, erklärte er, »hat die Großtrappe fast den Bau der ICE-Strecke Berlin–Hannover blockiert.« Er versuchte, sich an den Artikel in der MAZ zu erinnern. »Die Bahn wollte extra einen Tunnel bauen. Für eine Milliarde Euro.«

      Das Stöhnen seiner Zuhörer wurde nur von Bieleckes Lachen übertönt; es klang rau und gehässig, und sein gelber Schnauzbart sträubte sich unter seiner Knollennase. Sowie Jannes erneut den Finger seiner Frau im Rücken spürte, fuhr er fort:

      »2011 hat ’n Käfer den Bau des Stuttgarter Bahnhofs ausgebremst. Das Projekt lag drei Monate auf Eis.«

      »Ein beschissener Käfer?«, fragte Vogler.

      »Die Art steht unter Naturschutz.«

      »Verdammter Mist.« Frank hatte die rosarote Brille abgelegt, und Jannes registrierte nun ganz deutlich die Feindseligkeit in seinen Augen; jetzt schien sie allerdings jemand anderem zu gelten.

      Der Lehrer ergriff das Wort und erklärte den anderen, dass es um ihre Zukunft gehe, um ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Darauf blaffte ihn Christian Schauder an, was er denn über ihre Kinder wisse.

      Jannes merkte, wie er langsam aus der Runde gedrängt wurde. Alle Hände waren geschüttelt, alle Wünsche übermittelt, und seine Relevanz hatte sich mit dem kleinen Exkurs in Sachen Artenschutz erschöpft. Er verblieb am äußeren Ende der Bar und beobachtete das hektische Auf und Ab der Papierhüte. Als Patrick Kowalski sich zwischen die anderen Gäste schob, packte ihn Lotte am Arm.

      »Da will dir jemand gratulieren.« Sie sprach von ihren Verwandten, die gesittet an einem der hinteren Tische saßen.

      »Und warum kommt niemand her?«

      »Meine Schwester hat’s mit der Hüfte, das weißt du.«

      »Ja«, gab er nach. »Ich trink bloß aus.«

      »Ich finde, du solltest die Klappe halten«, sagte Patrick Kowalski zu dem Lehrer. »Du gehörst zu denen, die immer alles besser wissen.«

      Frank ermahnte ihn, er möge sich bitte mäßigen, worauf er postwendend mit dem Protest der anderen belegt wurde. Er solle Patrick gefälligst reden lassen. Schließlich sei er einer von ihnen und habe genauso wie der Rest ein Recht auf seine Meinung. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Runde setzte Patrick Kowalski offenbar unter Druck; er starrte den Lehrer an, doch in dessen Gesicht zeichnete sich nur ein leises Bedauern ab. Jannes war sich unklar darüber, ob das Bedauern dem Konflikt oder Patricks Einfalt galt. Ganz gleich, für welche Interpretation sich Jannes letztlich entscheiden würde, Patrick hatte längst sein Urteil gefällt. Er streckte seine Hand nach dem Lehrer aus, und Tom – sein älterer Bruder – preschte ungestüm in die Runde.

      Private Dancer

      Wie jeden Abend wollte Pawel es sich auf dem Sofa mit Bibi bequem machen. In einer Aluschale dampfte sein Abendessen: Hähnchen, Klöße, Rotkohl, dazu eine fettige Soße. Um nicht den Müll im TV ertragen zu müssen, hatte er seine Lieblingsserie in den DVD-Player geschoben. »Schock-Geschichten«. Zwölf Episoden voller Grusel, Terror und Leidenschaft. Doch ehe Pawel auf Position war, sah er durchs Fenster den jungen Kowalski zur Kneipe schlendern, was im Hause Mitschek eine kleine Programmänderung zur Folge hatte.

      Keine fünf Minuten später schob er die leere Aluschale aufs Fensterbrett und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Bibi sprang auf seinen Schoß und sofort spürte er durch die Jogginghose hindurch ihre Krallen. Er kraulte ihr sanft das Köpfchen, bis sie zufrieden schnurrte und sich einrollte. Angesichts seiner massigen Oberschenkel und seines Bauchumfangs wirkte Bibi kaum größer als ein Wollknäuel. »Ich wette«, sagte er zu ihr, »heute wird’s knallen.«

      Nachdem 20 Minuten ereignislos verstrichen waren, entschuldigte er sich bei Bibi und schob sie auf die Armlehne. Er hievte sich vom Sessel und schleppte sich durchs Wohnzimmer. Leere Colaflaschen übersäten den Teppich; unter seinen Pantoffeln knirschten Chips- und Haribo-Tüten. Aus dem 5.1.-Soundsystem, das er vor Jahren in einem letzten Kraftakt installiert hatte, surrte spannungsgeladene Musik. Obwohl er die Serie in- und auswendig kannte, stoppte er am Sofa, stützte die Arme auf die Rückenlehne und folgte Judy Geeson über die unheimlichen Moore von Yorkshire. Längst waren ihm die Darsteller alte Bekannte geworden, die Geschichten so vertraut wie achtsam gehütete Familiengeheimnisse.

      Judy Geeson, in der Rolle einer modernen Großstädterin, besuchte ihre Eltern auf dem Lande. Sie war gerade aus dem Zug gestiegen, da begegneten ihr schon die misstrauischen Blicke der Einheimischen. Eine jede Episode der »Schock-Geschichten« hielt, was der Serientitel auf subtile Weise versprach. So glaubte sich Judy Geeson von einem Brandstifter verfolgt, und natürlich wollte sie keiner der Einheimischen zu ihrem Elternhaus chauffieren. Bevor sie zu Fuß das schützende Heim erreicht hatte, begannen Pawel die Knie zu zittern. Er wälzte sich ans Ende der Rückenlehne und holte tief Luft; dann der Endspurt ins Badezimmer.

      Mit seiner Rechten langte er nach dem Haltegriff seitlich der Toilette, mit seiner Linken zog er sich Hose und Slip herunter. Langsam und in äußerster Vorsicht sank er auf die Brille, dann riss er sich einen Streifen Klopapier ab und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Er warf das Papier ins Waschbecken und umfasste seine Knie.

      Der Schmerz fauchte in seinen Gelenken wie eine gegen die Wand getriebene Katze. Jeder Pfotenhieb strapazierte seine Nerven. Er massierte sich die Knie und dachte daran, dass ihn die Angst vor den Schmerzen schon einmal ans Sofa gefesselt hatte. Statt auf Toilette zu gehen, hatte er in eine leere Colaflasche uriniert und die Flasche unter dem Tisch verstaut. Drei Tage lang.

      Pawel bediente die Spülung und stemmte sich mithilfe des Haltegriffs hoch, wankte zum Waschbecken und musterte sich im Spiegel. Sein Haar, schulterlang, fettig und angegraut, klebte ihm hinter den Ohren; schlaffe Wangen umrahmten seine Mundwinkel. Sein Körper hatte jede Spannung verloren. Er schnappte sich die Ibuprofen vom Beckenrand, warf eine Tablette ein und ließ den deprimierenden Anblick hinter sich.

      In der Diele standen neben der Schuhablage ein Sechserpack Cola und eine Tragetasche voller Chips. Er zerrte eine Flasche aus der Klarsichtfolie und suchte Halt an der Wand, klemmte die Cola unter seinen Arm und eine Tüte Chips zwischen seine Zähne, dann kämpfte er sich zurück ins Wohnzimmer.

      Am Sofa angekommen, stellte Pawel die Flasche ab und stützte sich wieder auf die Rückenlehne. Inzwischen lief die zweite Episode der »Schock-Geschichten«; diesmal war der Handlungsort ein Herrenhaus, irgendwo am Rande einer verlassenen Landstraße. Eine Tramperin, die von einem Unwetter überrascht wurde, bat um Einlass. Was die arme Frau nicht ahnte: Das Haus war in Besitz einer Familie ausgehungerter Kannibalen.

      Jede der zwölf Episoden war von Alan Albert Bloch geschrieben worden, einem Schriftsteller und Drehbuchautor, der sich Mitte der 70er-Jahre in einen New-Age-Messias verwandelt hatte. Pawel hatte sogar Alan Blochs Bibel »Im Innern des Baumes« zu lesen begonnen, doch nach wenigen Seiten kapitulieren müssen. Zu schwammig, zu esoterisch. Das hatte ihn aber nicht daran gehindert, ein Poster von »Leise, leise klingelt der Tod«, vermutlich Blochs bekanntestem Werk, über seinem DVD-Regal anzubringen. Großes Kino, dachte Pawel. Ganz großes Kino. Er nahm die Flasche vom Boden und schleppte sich ans Fenster.

      Nachdem er wie ein Mensch, der normalerweise Gehhilfen benutzte, in den Sessel geplumpst war, tapste Bibi zurück auf seinen Schoß. Zwei ferne Nachbarn, die er lediglich vom Sehen kannte, kamen die Dorfstraße entlanggelaufen, stoppten vor der Kneipe, um ihre Kleidung zu richten, und verschwanden in der Tür. Pawel nahm das Glas vom Fensterbrett und überprüfte, ob auch keine Fliege in den Colaresten klebte.

      Ein Muster an Sauberkeit war Pawel nie gewesen; allein in den Wochen, als Mona sein Leben bestimmt hatte, war er über sich hinausgewachsen: Er hatte das dreckige Geschirr abgespült, das Leergut zum Pfandautomaten gebracht und den Plastikmüll in der gelben Tonne entsorgt; er hatte das Wohnzimmer gesaugt und die Sofakissen dekorativ auf der Couch arrangiert; er hatte die Bilderrahmen an der Wand vom Staub befreit – links das Porträt seiner verstorbenen Eltern und ein Schnappschuss von Bibi,