Nacht im Kopf. Christoph Heiden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Heiden
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839269626
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ihrer Annahme waren die Fensterläden und die Haustür nicht farblos, sondern erstrahlten in einem hellen Grün. An der Fassade reihten sich Rosensträucher, oberhalb der Eingangsstufen hing sogar ein neuer Briefkasten. Der Opel in der Einfahrt war allerdings noch derselbe, und allein dieser Anblick verdeutlichte ihr, wie fern das hiesige Leben von ihrem eigenen zu sein schien, fern von Berlin und ihrer Arbeit, von dem ganzen Treiben ihrer großstädtischen Existenz. Im Grunde so weit weg, dass es nur logisch war, das Erbe ihrer Zieheltern auszuschlagen.

      Mike parkte den Taurus hinter Willys Astra, schnallte sich ab und bot ihr an, im Auto zu bleiben. »Ich kann mir auch ’n nettes Café suchen.«

      »Da wirst du enttäuscht werden.«

      »Irgend’ne Frittenbude findet sich immer.«

      »Nicht in Gollwitz. Hier kräht kein Hahn.«

      »Okay, dann warte ich eben im Auto.«

      »Seit wann bist du so ’n Schisser?« Mit einem Grinsen öffnete Anna die Wagentür und stieg aus.

      Sie rollte die Ärmel ihres Pullovers runter, stemmte die Hände in die Taille und blickte über die angrenzenden Felder. Ein grünes Band spannte sich von Ost nach West, und Mike fragte sie, was hier gesät worden sei. Futterklee, antwortete Anna und war selbst über ihre schnelle Reaktion erstaunt. In dem Glauben, Willy lauere hinter einem der Fenster, wandte sie sich dem Haus zu. Sicherlich war ihm in den letzten Jahren nicht die Bude eingerannt worden; während ihrer gemeinsamen Zeit hatte er sich kaum als großer Philanthrop präsentiert. Sie winkte in Richtung Haus, aber Willy machte keine Anstalten, sich zu zeigen.

      Mike versuchte, seine Unsicherheit mit einer gelangweilten Miene zu kaschieren. Leider funktionierte diese Taktik nicht mal bei ihren Kindern und Jugendlichen im Klub. Sie strich ihm über den Arm und er blinzelte nervös.

      Noch bevor Anna an die Tür klopfte, erfasste sie eine abstruse Vorstellung: Was, wenn Willy irgendetwas zugestoßen war, er womöglich im Krankenhaus lag oder – und dieser Gedanke ließ ihren Atem stocken – auf dem Gollwitzer Friedhof? Mit seinen 73 war sein Alter fünf Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung deutscher Männer, sagte sie sich. Andererseits hob ein fetter, cholerischer Alkoholiker nicht unbedingt den Schnitt. Anna hämmerte heftig gegen die Tür in der Hoffnung, den Gedanken damit zu verscheuchen.

      »Vielleicht ist er nicht da«, flüsterte Mike.

      »Wo soll er schon sein?«

      »Vielleicht Freunde besuchen.«

      »Er hat keine Freunde.«

      »Oder er ist im Urlaub.«

      »So was kennt Willy nicht.«

      »Na ja«, sagte Mike. »Bestimmt hockt er nur aufm Klo.«

      Anna horchte an der Tür, hörte nichts und zerrte einen Schlüssel aus der Jeans.

      »Wo hast du den denn her?«, wollte Mike wissen.

      »Hat mir Willy geschenkt.«

      »Und das hat er nicht vergessen?«

      Anna zuckte die Achseln und schob den Schlüssel ins Schloss.

      In einem Anflug von Erstaunen registrierte sie, dass sich nicht nur das Äußere des Hauses verändert hatte: Die Diele war neu tapeziert worden und auf der Telefonbank lagen saubere Sitzpolster. Als sie darunterschaute, kniff sie enttäuscht die Lippen zusammen. Statt der Pantoffeln, die sie damals in Willys Haus getragen hatte, stand dort ein Korb voller Latschen, an denen noch die Preisschilder klebten.

      Sie rief erneut nach Willy, aber aus Küche und Wohnstube kam keine Antwort; vielmehr verursachte das Gemäuer eine Stille, die man allenfalls unter den Dächern alter Häuser vernahm. Still und doch nicht geräuschlos, eher ein schwaches Surren, das Gebälk und Gemäuer zu erzeugen schienen. Behutsam öffnete Anna die Wohnstube, trat ein und winkte Mike hinter sich her.

      »Willy?«, flüsterte sie aus Sorge, ihn zu verschrecken. »Bist du hier?«

      Auch in der Stube war alles anders oder genauer gesagt alles neu. Ein heller Anstrich verlieh dem Raum Größe und die Fenster wurden von fliederfarbenen Vorhängen geschmückt. Zwischen Sofa und Fernseher streckte sich ein Teppich, der für Willys Verhältnisse viel zu flauschig, viel zu einladend und vor allem viel zu sauber war.

      »Er hat wohl auch seine ruhigen Momente«, sagte Mike und deutete zur Wand. Dort, wo einst Notizen, Fotos und Zeitungsartikel die Tapete verdeckt hatten, hing ein gerahmtes Puzzle; das Motiv eine Meereslandschaft mit Korallen, Fischen und einem riesigen Wal.

      »Sieht ihm gar nicht ähnlich«, erwiderte Anna.

      »Puzzeln soll gegen Demenz helfen.«

      »Passt trotzdem nicht zu ihm.«

      »Vielleicht wohnt er gar nicht mehr hier.«

      Anna runzelte die Stirn, als hätte Mike gerade für ein Verbot von Horrorfilmen plädiert. Oder ihr Freund lebe inzwischen mit jemandem zusammen, setzte er nach, was sie noch abstruser fand. Wortlos betrachtete sie ein Bücherregal, an das sie sich ebenso wenig erinnern konnte.

      »Der Herr steht eindeutig auf Krimis.« Mike ließ einen Finger über die Einbände wandern. »›Goldfinger‹, ›Mondblitz‹ und … Ach, guck an.« Er tippte auf einen Reiseführer für Italien. »Von wegen er macht keinen Urlaub.«

      Anna, zutiefst verunsichert, begab sich in den rückwärtigen Teil der Wohnstube. An der Wand stand das Küchenbüfett, dessen unpassender Platz ihr wenigstens vertraut war. Auf der Arbeitsfläche der Plattenspieler, daneben ein Stapel Schallplatten, beides ohne ein Körnchen Staub. Willy musste eine Frau kennengelernt haben – anders konnte sie sich diese Sauberkeit, diese ganzen Veränderungen nicht erklären. Sie ging in die Hocke und linste durch die Glastüren. Die Flasche »Bushmills«, die Willy am Tag ihrer Abreise angebrochen hatte, fand sich natürlich nicht im Schrank.

      »Ich glaube, wir haben den gleichen Geschmack«, flüsterte Mike und hielt ihr ein Album namens »Barry White Greatest Hits« hin. Der Anblick entlockte Anna ein Lächeln; das war eindeutig eine von Willys Scheiben. Sie kam hoch und folgte Mikes Finger durch den Plattenstapel, von Tina Turners »Privat Dancer« zu Bill Withers »Lovely Day«, lauter Songs, die sie auch auf ihrer Playlist hatten, und als sie ihren Kopf an seine Schulter schmiegte, vernahm sie das Dröhnen stampfender Schritte.

      Reflexartig wandten sie sich um, ehe sie beide in ihrer Bewegung erstarrten. Die Tür flog auf und Willy stürmte herein, in der Hand eine Axt, kein Blick zur Seite, kein Blick zu ihnen. »Verdammte Hexe!«, schrie er und schlug das Puzzle von der Wand.

      9.05 Uhr

      Jimmy Schauder setzte seine Brille auf und angelte das Smartphone vom Boden. Es war kurz nach neun, und er wusste, dass seine Mutter ihn jeden Moment aus dem Bett klopfen würde. Frühstück sei fertig, würde sie durch die Tür rufen und ihm gleichzeitig androhen, den Tisch abzuräumen, wenn er nicht sofort hinunterkäme.

      Er rollte sich auf die Seite, knautschte das Kissen so zurecht, dass ihn die Brille nicht störte, und begann, »Fire Station 2« zu zocken. Seine Spielfigur war ein Feuerwehrmann, der innerhalb kürzester Zeit so viele Brandherde wie möglich löschen musste. Oberhalb der Spielfläche leuchteten seine verbliebenen Leben auf – er konnte selbst in einem der Feuer zu Tode kommen – und daneben lief ein Countdown mit der Spielzeit. Seit seine Chemielehrerin vor der Klasse einen Streifen Magnesium entflammt hatte, war Jimmy von Feuer fasziniert; besonders dessen Zerstörungskraft zog ihn in den Bann. Häuser und Scheunen, über die ein Feuertornado gewirbelt ist. Brennende Luftschiffe. Feindliche Unterschlüpfe, die er in »Shoot ’n Kill« mit dem Flammenwerfer ausradierte.

      »Aufstehen!«, schallte es durch die Tür der Dachstube. »Frühstück ist fertig.«

      Er sparte sich eine Antwort, denn der nächste Satz war schon im Anmarsch. Seine Mutter drohte ihm, den Tisch abzuräumen, wenn er nicht sofort käme. Also hob er sich in die Senkrechte, ohne das Spiel zu unterbrechen. Er hatte bereits 24 Feuer gelöscht und wollte