Der Tag, an dem Betty Widdershins von dem Familienfluch erfuhr, war ihr Geburtstag. Es war ihr dreizehnter, für manche eine Unglückszahl, aber Betty war zu vernünftig veranlagt, um an solchen abergläubischen Unsinn zu glauben, auch wenn sie damit aufgewachsen war.
Es war ein Samstagabend; da war immer viel los in der Gaststätte, die Bettys Zuhause war. Im Wildschütz trafen sich die Raufbolde der Insel Krähenstein. Die Gaststätte war schon seit Generationen im Besitz der Familie Widdershins. Jetzt gehörte sie ihrer Großmutter, die auch Betty hieß, aber von allen Granny oder Bunny genannt wurde, um Verwechslungen zu vermeiden. Sie wohnten dort mit Bettys Schwestern, Felicity (genannt Fliss), dem ältesten der Mädchen, und der sechsjährigen Charlotte, die nur auf »Charlie« reagierte.
Wie es der Zufall gewollt hatte, fiel Bettys Geburtstag außerdem auf Halloween. Als sie und Charlie in ihren wehenden Kostümen die Treppe hinunterstürmten, kamen sie sich ganz verwegen vor. Tatsächlich fühlte sich Betty in ihrer Verkleidung richtig wagemutig, und das war auch gut so, denn sie und Charlie waren kurz davor, das wichtigste Verbot ihrer Großmutter zu brechen. Nur, dass Charlie davon noch nichts wusste.
Als sie die Tür zur Bar aufrissen, drang warme, bierdunstige Luft durch die Löcher in Bettys Totenkopfmaske. Sie hob Grannys Lieblingshufeisen auf, das scheppernd auf den Boden gefallen war, und hängte es wieder über den Türrahmen. Charlie stieß zur Begrüßung ihr bestes Hexengekicher aus und schwang ihren Umhang. Sie schnappte sich Grannys Besen aus der Ecke und begann, um die verschrammten Tische und zusammengewürfelten Stühle herumzutanzen und zu singen, während ihre Augen aus ihrem grün geschminkten Gesicht hervorblitzten.
»Süßes oder Saures … das Moor ist neblig, der Zucker ist klebrig!« Sie drehte sich und hopste wie ein Kobold, während die Stammgäste sie amüsiert beobachteten.
»Pass auf, Charlie!«, rief Betty und sah den herumwirbelnden Umhang ihrer Schwester schon im Kamin Feuer fangen. Sie selbst hatte vorhin das Feuer angezündet, nachdem sie und Charlie Kürbislaternen geschnitzt hatten. Sie zupfte ihren langen schwarzen Mantel zurecht und winkte ungeduldig zur Bar hinüber, wo Granny gerade den Tresen abwischte.
»Wir gehen jetzt los, Granny«, sagte sie und war froh, dass ihr Gesicht unter der Maske verborgen war. Sie hatte diesen Abend seit Wochen geplant und dabei nichts als Aufregung empfunden, aber jetzt, wo es so weit war, den Plan in die Tat umzusetzen, konnte sie ihre eigene Ungehorsamkeit kaum fassen. Sie hoffte, ihre Großmutter würde das Zittern in ihrer Stimme der Aufregung zuschreiben und nicht dem Muffensausen, das in ihrem Innern herumschwirrte wie ein Schwarm Sumpffliegen.
Granny stampfte mit schwerem Schritt auf sie zu. Sie stampfte überall hin, statt zu gehen, knallte Türen, statt sie zu schließen, und brüllte meistens, statt zu sprechen.
»Schnorren gehen wollt ihr?«, rief sie und pustete sich das graue Haar aus der Stirn.
»Das ist kein Schnorren«, korrigierte Betty sie. »An Halloween machen das doch alle.«
»Pah!«, machte Granny. »Ich weiß sehr gut, was alle machen, vielen Dank. Und für mich ist das Schnorren, wenn ihr euch doch hier nützlich machen könntet.«
»Ich hab mich den ganzen Tag nützlich gemacht«, murmelte Betty schnippisch. Ihr wurde heiß unter der Maske, und ihre struppigen Haare kitzelten sie am Hals. »So viel zum Thema Geburtstag.«
Granny schnaubte. Geburtstag hin oder her, alle Widdershins mussten in der Gaststätte mit anpacken, sogar Charlie.
»Ihr geht nur einmal um den Park herum«, befahl Granny. »Weiter nicht, hört ihr? Und spätestens zum Abendbrot –«
»Sind wir zurück«, beendete Betty den Satz. »Ich weiß.«
»Nun, dann haltet euch auch daran – vergesst nicht, was letztes Jahr passiert ist.« Grannys Stimme wurde sanfter. »Und nachher gibt es Geburtstagskuchen.«
»Oooh!«, rief Charlie und unterbrach bei der Erwähnung von Essen ihren Koboldtanz.
Als Granny an die Bar gerufen wurde, um einen Gast zu bedienen, warf Betty einen Blick zu Fliss.
»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte Betty mit einem flehenden Tonfall in der Stimme. Es hatte immer so viel Spaß gemacht, wenn sie sich alle drei an Halloween verkleidet hatten. »Ohne dich ist es nicht das Gleiche.«
Fliss schüttelte den Kopf und warf ihr dunkles, glänzendes Haar über die Schultern. Auf ihrer perfekten Stupsnase war ein kleiner Klecks grüner Farbe zu erkennen, mit der sie Charlies Gesicht geschminkt hatte. »Ich bin zu alt für so was. Außerdem werde ich hier gebraucht.«
»Vielleicht willst du es ja nur nicht verpassen, wenn Will Turner vorbeikommt?«, witzelte Betty. »Oder ist es diese Woche Jack Humble? Wer bekommt den nächsten Fliss-Kuss? Ich komm nicht mehr hinterher, Flissy-Kissy.«
Fliss funkelte sie wütend an. »Ich hab dir doch gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst!«
Betty verdrehte die Augen und beschloss, den Farbklecks auf der Nase ihrer Schwester nicht zu erwähnen. Seit ihrem Geburtstag war Fliss nicht mehr sie selbst. Sie war schweigsam, manchmal auch launisch und verschloss sich, sobald Betty fragte, was sie bedrückte.
»Betty?«, sagte Fliss mit einem wachsamen Blick zu Granny. »Ihr bleibt wirklich beim Park, nicht wahr?«
Betty verzog unter ihrer Maske das Gesicht. Sie kreuzte unter den Falten ihres Mantels die Finger und flunkerte: »Ja, wir bleiben beim Park.«
Fliss blickte mit undurchdringlicher Miene an Betty vorbei zum Fenster. »Es ist ohnehin besser, wenn ihr in der Nähe bleibt. Sieht etwas neblig aus da draußen. Eine Fähre über die Marsch zu nehmen könnte gefährlich sein.« Sie wandte sich ab, als ein hochnäsiger Stammgast namens Queenie ungeduldig auf den Tresen klopfte.
Betty sah ihrer Schwester nach und verdrehte die Augen. »Dies dürft ihr nicht, das könnt ihr nicht«, murmelte sie. Was war nur seit ihrem Geburtstag mit Fliss passiert? Sicher, sie war so eitel wie immer und starrte oft gedankenverloren in einen alten Meerjungfrau-Spiegel, den Granny ihr geschenkt hatte, aber all ihre Heiterkeit war mit den Kerzen auf ihrem Kuchen weggepustet worden. Im Grunde klang sie allmählich genau wie Granny.
Betty hatte das Gefühl, dass ihr Leben im Wildschütz ein Korsett war, das sie mehr und mehr einzwängte. An der einen Schnur zog Granny, und an der anderen zerrte jetzt Fliss, sodass sie kaum noch Luft bekam. Heute Abend war Betty entschlossen, diese Schnüre zu kappen, wenn auch nur für eine kurze Weile.
Sie rief nach Charlie, die ein paar Gäste beim Domino-Spiel unterbrochen hatte, um ihnen stolz die Lücke zu zeigen, wo ihr Schneidezahn herausgefallen war. Gemeinsam bahnten sich die beiden ihren Weg zur Tür, vorbei an Tischen mit Gesichtern, die Betty so vertraut waren wie ihr eigenes. Sie waren schon fast an der Tür, als sich Charlies Fuß in Bettys Mantel verfing. Sie stolperte und fiel gegen einen Tisch, an dem ein griesgrämiger Kerl namens Fingerty saß. Er stieß einen unfreundlichen Laut aus, irgendetwas zwischen einem Grunzen und einem Knurren, und machte ein mürrisches Gesicht, als das Bier in seinem Glas schwappte.
»’tschuldigung«, murmelte Betty und hastete an ihm vorbei.
Eiskalte Luft strich um ihre Knöchel, als sie sich an weiteren Gästen vorbeidrängten, die in die Gaststätte strömten. Dann waren sie draußen in der frostigen Nacht. Aber, ach – was für eine Nacht … Freiheit! Zumindest, sobald sie in ein paar Minuten auf der Fähre sitzen würden. Betty jubelte innerlich. Sie zitterte vor Erwartung ebenso wie vor Kälte. Aber sie spürte auch einen Anflug von Angst. Fliss hatte recht: Es sah tatsächlich etwas neblig aus hier draußen. Soweit Betty wusste (denn das hatte sie überprüft), war kein Nebel vorhergesagt. Doch sie wusste auch, dass die Marsch unberechenbar war und dass die Vorhersagen manchmal falsch waren.
Charlie störte die Kälte nicht. Sie stieß weiße Atemwölkchen aus, während sie vorausrannte und mit ihrem kleinen Hexenkessel schlenkerte, in dem sie Süßigkeiten sammeln wollte. Betty eilte ihr nach und ließ ihren Blick die Straße entlangschweifen.