Ich traf die Kulturwissenschaftlerin an der Universität Innsbruck zu dem folgenden Gespräch.
Neues Leben oder neues Sterben?
Sie befassen sich seit etwa 15 Jahren mit den Graubereichen der Transplantationsmedizin und haben darüber wissenschaftliche Publikationen verfasst. Was sind Ihre Hauptkritikpunkte?
Bergmann:
Die Organtransplantation beruht auf einer Überschreitung von biologischen, ethischen und anthropologischen Grenzen. Zum einen muss die angeborene Immunabwehr bei den Organempfängern lebenslang chemisch unterdrückt werden, damit sie nicht mehr in der Lage sind, das Organ abzustoßen. Das hat zur Konsequenz, dass diese Therapie mit lebensgefährlichen Folgewirkungen verbunden ist. Zum anderen beruht die Transplantationsmedizin auf der Abhängigkeit von dem Körper und Tod ihrer eigenen Patienten, so dass sie Sitten unserer Sterbe- und Bestattungskultur verwerfen muss. Dann hat sie immer wieder neu das Problem der Organbeschaffung und das Auseinanderklaffen, wie es heißt, von „Angebot“ und „Nachfrage“ zu lösen. Und schließlich ist diese Therapieform auf noch lebende Patienten angewiesen, denn Organe aus dem Körper von Leichen hätten bei Organempfängern eine tödliche Wirkung. Deshalb wurde in den 1960er Jahren der Hirntod – das Konstrukt einer „lebenden Leiche“, die als „tote Person“ mit einem „noch lebenden Restkörper“ definiert ist – als Voraussetzung der Organgewinnung eingeführt.
Sprechen Sie die Definition der Harvard-University an, die 1968 definiert hat: Wenn es keine Gehirnfunktionen mehr gibt, gilt der Mensch als tot?
Bergmann:
Die Harvard-Richtlinien wurden als Reaktion auf die von dem Kapstadter Chirurgen Christiaan Barnard losgetretene Transplantationswelle durch seine 1967 medienwirksam präsentierte Herztransplantation formuliert. Bis dahin fand die Organgewinnung in einer rechtlichen Grauzone statt. Aber die Harvard-Definition legte die Areflexie als Zeichen des Hirntodes fest und zählte das Rükkenmark mit zum Gehirn. Dieses Kriterium wurde noch im selben Jahr aufgegeben, weil „Harvard-Tote“ für Zwecke der Transplantationsmedizin bereits „zu tot“ waren, wie Gesa Lindemann es einmal ausgedrückt hat. Seither dürfen Hirntote bis zu 17 Reflexe aufweisen. Denn man hat auf die Definition des „zerebralen Todes“ der deutschen Neurochirurgen Wilhelm Tönnis und Reinhold Frowein zurückgegriffen und den Hirntod auf die Schädelkapsel eingegrenzt, wobei bemerkenswert ist, dass Tönnis in die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus verstrickt war.
Wenn Sie sagen, dass Organtransplantationen gegen biologische Gesetzmäßigkeiten verstoßen – meinen Sie damit die Tatsache, dass Verwesungsprozesse für den Organempfänger tödlich sind?
Bergmann:
Ich meine damit, dass fremde Organe grundsätzlich abgestoßen werden, egal ob sie im vitalen Zustand oder mit bereits nekrotischen Anteilen verpflanzt werden. Wir haben eine angeborene und lebenswichtige Immunabwehr, die sofort reagiert, wenn ein Fremdkörper in unseren Körper dringt. Das ist das Grundproblem der Transplantationsmedizin, das sie seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis heute nicht gelöst hat. In den 1950er Jahren versuchte man noch, die Immunabwehr lahmzulegen, indem man Organempfänger einer radioaktiven Ganzkörperbestrahlung und einer anschließenden Injektion von Knochenmarkzellen unterzog, heute erfolgt sie medikamentös.
Die Immunabwehr muss bis zum letzten Lebenstag eines Organempfängers unterdrückt werden, was zu gravierenden Infektionsgefahren führt. Und es wird ein Zustand erzeugt, der von medizinischer Seite mit dem Krankheitsbild von AIDS verglichen wurde. Entsprechend haben Organempfänger ein 65fach erhöhtes Krebsrisiko. Außerdem ist diese Therapieform mit Nierenschädigungen und anderen schwerwiegenden Folgewirkungen der chemischen Außerkraftsetzung des Immunsystems verbunden. Daher bleiben Organempfänger chronisch krank und sind entsprechend auch als Schwerbehinderte geschützt.
Was hat sich denn in der Transplantationspraxis in den letzten 15 Jahren aus Ihrer Sicht geändert?
Bergmann:
Charakteristisch für ihre Entwicklung ist, dass Transplantationen nicht nur um Hände, Arme, Beine und Gesichter erweitert wurden, sondern die Zahl der Organverpflanzungen steigt insgesamt. Die Transplantationsmedizin geht davon aus, dass sich zukünftig der Organbedarf verzehnfachen wird. Entsprechend gibt es eine intensivierte Forschung unter der Fragestellung, wie die Zahl der Organe potenziert werden kann. Hier stehen momentan drei Strategien im Vordergrund: Die erste bezieht sich auf die Erweiterung von Kriterien der Spenderauswahl und entsprechend auch der Indikation bei den Empfängern. So hat die Transplantationsmedizin den „marginalen Spender“ und sein Pendant, den „marginalen Empfänger“, aus der Taufe gehoben, der entweder über 65 Jahre alt ist oder Erkrankungen aufweist, die in den 1990er Jahren noch als Kontraindikation für eine Verpflanzung galten. Beispielsweise werden Lebern mit einer über 30-prozentigen Verfettung oder auch Raucherlungen in den Körper von Patienten verpflanzt, wenn deren Vorerkrankung oder altersbedingt eine geringere Lebenserwartung wahrscheinlich ist. Begonnen mit der Aufweichung der Spenderkriterien hat die Privatstiftung Eurotransplant schon 1999 durch das Eurotransplant Senior Program (ESP) unter der Floskel „Old-for-Old“.
Mit dieser Strategie zur Vermehrung transplantierbarer Organe wurden erstmals Auswahlkriterien hinsichtlich des Alters von Spendern und Empfängern für die Gewinnung und Verpflanzung von Nieren gelockert. Im Rahmen des ESP-Programms erhalten Patienten, die älter als 65 Jahre alt sind, mittlerweile auch weitere Organe von alten Menschen. Entsprechend hat sich die Altersstruktur sowohl von Spendern und Empfängern markant verändert. In Deutschland war zum Beispiel 2012 jeder dritte Organspender über 65 Jahre alt. Und die Werbung um Organspende macht nicht einmal mehr vor 90jährigen Menschen Halt, so dass Organe aus dem Körper von hochbetagten Senioren ohne Altersgrenze in den Körper von Patienten, die älter als 65 Jahre sind, verpflanzt werden.
Außerdem versucht die Transplantationsmedizin den sogenannten „Spenderpool“ durch Lebendspenden von Nieren, Teilen der Leber und der Lungen zu erhöhen, und drittens durch die neue Spendergruppe der „Non-heart-beating-donors“. Hier handelt es sich um Menschen, die einen Herzstillstand erlitten haben und deren Zahl nicht so begrenzt ist wie die von vornherein nur kleine Gruppe hirnsterbender Patienten, deren Hirnkreislauf aufgrund eines Schlaganfalls, einer Hirnblutung oder eine Schädelverletzung zusammengebrochen und bei denen der „Hirntod“ diagnostiziert ist.
Von welchen Ländern sprechen Sie hierbei? Deutschland, Österreich?
Bergmann:
Die gesamte Entwicklung der Transplantationsmedizin erfolgt international im Rahmen der scientific community, obwohl es national verschiedene Gesetzgebungen hinsichtlich der Organentnahmen gibt. In Deutschland ist die Explantation der „Nonheart-beating-donors“ noch als medizinische Tötung verboten, was meines Erachten jedoch nur eine Frage der Zeit sein wird. Die Verpflanzung – wie es ein Transplantationsmediziner ausdrückte – von „schlechten“, also „marginalen Organen“, ist mit steigender Tendenz im internationalen Maßstab gängig geworden.
Für mein neues Buch habe ich Interviews mit von dieser Verpflanzungspraxis betroffenen Familien durchgeführt, die mir verheerende Verläufe nach der Transplantation ihrer Angehörigen geschildert haben. Sie sind bis heute traumatisiert. Denn sie sahen in der Transplantation die Perspektive, den Tod abwenden zu können. Stattdessen kam es zu einem qualvollen Sterbeprozess, den ich nur noch mit dem Begriff des „Monströsen“ beschreiben kann, weil es diese Art des Sterbens mit dieser enormen Häufung extremer Folgewirkungen der Immunsuppression sonst wohl kaum gibt.
Die Logik des Ersatzteile-Austauschens funktioniert also nicht wirklich …