Von dem bedeutenden französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), der selbst in seinem Wissensdrang Tiere zergliederte (und sie letztlich zu seelenlosen, schmerzunempfindlichen Wesen erklärte), aber auch von dem richtungweisenden englischen Physiker Sir Isaac Newton (1642–1727) oder dem großen deutschen Astronomen Johannes Kepler (1571–1630) ist bekannt, dass sie lange Zeit unter Todesängsten litten. Die Biographien dieser Denker und Forscher sind Beispiele, die zeigen, dass es offenbar keinen verlässlichen intellektuellen Weg gibt, um diese typisch menschlichen Bangigkeitsgefühle zu überwinden.
Die Angst vor dem Tod: Bei näherer Betrachtung geht es dabei zum einen um die Furcht, als Individuum ausgelöscht zu werden, also alles zu verlieren, was als „Ich“ erlebt wird – Bewusstsein, Identität, Erinnerung und Zukunft. Neben dieser Angst vor dem „Nichts“ besteht aber gleichzeitig auch die Angst vor dem „Etwas“, vor etwas Unberechenbarem, Unbekanntem, das sich des Lebens bemächtigt oder womöglich in gruseliger Art und Weise aus dem Jenseits in das Diesseits greift.
Während der Mensch Jahrhunderte lang vor allem im Glauben Zuflucht vor seiner eigenen Todesangst suchte, entwickelte er zu Beginn der Aufklärung eine neue Strategie der Furchtbewältigung. Das heißt … so neu war sie eigentlich nicht: Es wurden „Schuldige“ gesucht, gefunden und bestraft, um sich die „Gottes Gnade“ – und damit ein angstfreies Gewissen – zu erkaufen.
Von solchen Projektionen berichtet schon das Alte Testament der Bibel. Aus einer jüdischen Zeremonie stammt der bekannte Begriff „Sündenbock“. Am „Tag der Vergebung“ machte der Hohepriester die Sünden seines Volkes bekannt und übertrug sie durch Handauflegen auf einen Ziegenbock. Dieser wurde daraufhin, beladen mit allen Sünden, in die Wüste geschickt. Das Volk konnte sich befreit und erlöst fühlen …
Die Sündenböcke des 17. Jahrhunderts waren die Hexen. Sie standen stellvertretend für das Unberechenbare, Angstauslösende, das vernichtet werden musste, um Gottes Gunst zu gewinnen. Die Idee, dass dieser „Handel mit dem Himmel“ funktioniert, verfestigte sich zum regelrechten Wahn und forderte zahllose Opfer. Die Schätzungen reichen von 40.000 bis zu mehreren Hunderttausend ermordeten „Hexen“ und „Hexern“ in Europa.
Hier brennende Scheiterhaufen, dort Leichenzergliederungen im Anatomischen Theater … der Tod war in der beginnenden Neuzeit omnipräsent. Die Angst davor sicher ebenfalls. Und sie wurde wohl noch verstärkt durch teils furchterregende Personifizierungen, etwa die Vorstellung vom gesichtslosen „Sensenmann“, die auf christliche und vorchristliche Mythologien zurückgeht.
Wirken solche Bilder vielleicht bis heute im „Seelenhintergrund“ mancher Menschen? „Sicher hat die Angst auch mit der Personifizierung des Todes zu tun“, sagt der Münchner Vortragsreferent Siegfried Bauer, der zum Thema „Tod und Jenseits“ einen bemerkenswerten Text im Angebot hat. „Wir kennen alle die Bilder vom Sensenmann, der in der einen Hand eine Sanduhr hält, die die abgelaufene Zeit anzeigt. Die Sense in seiner anderen Hand symbolisiert das Durchtrennen des Lebensfadens, der bereits in Mythologie und Bibel als ‚Silberne Schnur‘ genannt ist. Die verbreitete Angst vor dem Tod wurde in den letzten Jahrhunderten in unserem westlichen Kulturkreis aber vor allem durch die Kirchen bewusst genährt und gefördert. Die Angst diente als wirkungsvolles Druckmittel, die Menschen nicht nur zum Glauben, sondern vor allem in die Kirchen zu bewegen. Fegefeuer, Hölle, Schmerzen, Qualen … diese bewusst in den Vordergrund gestellten Vorstellungen haben die Angst der Menschen vor dem Tod geschürt.“
Die Angst vor dem Tod hatte nach Siegfried Bauer auch mit der Frage zu tun, wie sicher sich dieser feststellen lässt: „Die heutige moderne Apparatemedizin ist in der Lage, den Tod sehr zuverlässig zu bestimmen. Das war aber nicht immer so und führte zum Beispiel dazu, dass Menschen lebendig begraben wurden. Indizien fanden sich bei exhumierten Leichen: Die Beerdigten und zu früh für tot Erklärten hatten sich im Sarg noch einmal umgedreht oder Kratzspuren am Sargdeckel hinterlassen. Diese gruseligen Berichte vergrößerten verständlicherweise auch die Angst vor dem Tod.
Ärzte und Forscher nahmen sich daher des Themas an, denn wenn es schon keine Geräte gab, den Tod immer mit Sicherheit festzustellen, so wollte man wenigstens Möglichkeiten und Vorrichtungen entwickeln, die ein Lebendig-begraben-Sein verhindern. Es gab zum Beispiel die Konstruktion eines russischen Arztes, der eine Röhre mit einer langen Schnur durch die Erde in den Sarg führte, wobei am oberen Ende der Schnur ein Fähnchen angebracht war. Die Schnur wurde am unteren Ende um den Finger des Beerdigten gewickelt, und wenn dieser sich doch noch einmal bewegte, schwenkte das Fähnchen und man sah: Hier liegt jemand lebendig begraben! Ähnliche Konstruktionen befanden sich in einigen Leichenhallen in München, in denen für tot Erklärte einige Tage aufgebahrt und ihre Finger mit einem komplizierten Zugleinensystem verbunden wurden. Wenn sich doch noch jemand bewegte, läutete über dieses System ein Glöckchen bei einem Wächter.“
Sicher zu dessen Freude.
In unserer heutigen Gesellschaft ist die Sorge vor dem Lebendig-begraben-Werden weit in den Hintergrund getreten. Doch die Frage, wann der Mensch wirklich tot ist, scheint auch im 21. Jahrhundert noch nicht endgültig geklärt.
Die hirntote Leiche darf sich bewegen
Diese Behauptung dürfte vorerst unglaubwürdig erscheinen. Denn schließlich kennen wir ja die klassischen Todesmerkmale – Stillstand der Atmung und Stillstand des Herzens. Darüber hinaus können heute auch die Gehirnströme gemessen werden. Wenn in der Elektroenzephalographie keine Aktivität mehr festzustellen ist, dann wird wohl auch kein Bewusstsein mehr vorhanden sein; der Mensch ist tot. Was also sollte in dieser Angelegenheit unklar sein?
Zunächst ist festzustellen, dass die früheren Todeszeichen, die über Jahrtausende Gültigkeit hatten, durch die Weiterentwicklung der medizinischen Technik keine unumschränkte Aussagekraft mehr besitzen. Denn es gibt ja Möglichkeiten, Herzschlag und Atmung wieder in Gang zu bringen, den Menschen also während eines bestimmten Zeitraums erfolgreich zu reanimieren. Vor allem aber ist es üblich geworden, bestimmte Patienten über Wochen oder Monate „künstlich am Leben zu erhalten“, wie es so schön heißt.
Im Jahr 1958 beschrieben französische Neurologen erstmals das Krankheitsbild „Hirnversagen bei sonst lebendigem Leib“ und nannten es „coma dépassé“. Der Körper kann demnach „leben“, während das Gehirn „tot“ ist. Aber was bedeutet das für den gesamten Menschen? Lebt er nun oder ist er tot? Ist er nur sein Gehirn oder umfasst die menschliche Persönlichkeit mehr als nur das?
In der Medizin hat man sich zehn Jahre später, 1968, auf die Definition des sogenannten Hirntodes geeinigt. Demnach gilt der Mensch als tot, sobald keine Gehirnfunktionen mehr nachweisbar sind. Dieses „Kriterium“ erschien plausibel, weil die Praxis gezeigt hatte, dass in einem Gehirn, das nicht mit Blut und Sauerstoff versorgt wird, innerhalb kurzer Zeit endgültig und unwiderbringlich jene Funktionen erlöschen, die ein Mensch körperlich zum Leben braucht und die seine geistige Persönlichkeit erkennen lassen.
Anders ausgedrückt: Vor rund 50 Jahren wurde der „Homo cerebralis“ geboren. In seiner neuen Vorstellung von sich selbst definiert der Mensch sich seither einfach als Ergebnis elektrischer Gehirnströme. Menschsein ist Gehirnsein.
Seit Einführung des „Hirntodkriteriums“ können daher auch Menschen als tot gelten, deren „Lebens“-Funktionen durch Maschinen aufrecht erhalten werden und die man in entsprechenden Kliniken nicht als Leichen, sondern als Patienten behandelt: Hirntote werden ernährt und gewaschen, erfahren Haut-, Haar- und Zahnpflege, und es wird ihnen auch zugestanden, sich zu rühren. Wenn sie im Krankenbett gelegentlich Hand- oder Beinbewegungen vollführen oder sogar Anstalten machen, eine Pflegekraft zu umarmen, dann gilt das als reflexbedingt.
Der „Lazarus-Effekt“ ist bekannt. Hirntote „Leichen“ dürfen sich bewegen.
Nicht zufällig allerdings gilt das Todesmerkmal „hirntot“ just seit jener Zeit, als sich die Transplantationsmedizin zu etablieren begann.
Am 3. Dezember des 1967 hatte ein südafrikanisches Transplantationsteam unter der Leitung von Dr. Christiaan Barnard (1922–2001) in Kapstadt die weltweit erste Herztransplantation