Bourdieu war überzeugt, dass der Neoliberalismus blühende europäische Regionen und Länder in Ghettos und in Gebiete nahezu wie nach einem Krieg verwandeln werde. Zeitbombenartig. Und der vom neoliberalen Nobelpreisträger Becker stammende Begriff Humankapital war Bourdieu genauso ein Gräuel, wie ihm George Soros suspekt war, George Soros, der weltweite Wohltäter und Humanist, geniale Hedgefondsbetreiber und Demokratiebringer, der sich in der Realität stets gegen eine Finanztransaktionssteuer ausgesprochen hat und der zuvorderst jegliche kontrollierende, regulierende oder gar verbietende Maßnahme gegen Hedgefonds vehement abgelehnt und bekämpft hat.
Bourdieus Demokratiemethode, Solidaritätsmethode ist folgendermaßen beschaffen: In, besser gesagt: durch Bourdieus Elend der Welt erzählen angeblich banale alltägliche Menschen wie – Pardon – Du und ich einander ihre angeblich unwichtigen Leben, Wegwerfleben, und was sie fürchten, was sie sich wünschen, was ihnen wehe tut. Und zwar Menschen vom Bauern bis zum Untersuchungsrichter, von der Polizistin bis zur Postangestellten, vom Weinhändler bis zum jungen baldigen Neonazi, vom Migrantenbuben und dessen Hausmeister bis zur kleinen Geschäftsfrau oder bis zum Sozialarbeiter oder bis zur Lehrerin oder zum Schuldirektor oder zum Versicherungsvertreter oder zur Leiterin eines Frauenhauses; es erzählen also Menschen, die einander ansonsten unbekannt oder gleichgültig oder gar widerwärtig sind, einander ihr Leben. Indem sie einander angeblich Banales erzählen, das in Wahrheit basal, lebenswichtig ist, entmachten sie Stück für Stück die Wirtschaftsherren und politischen Machthaber, von denen sie beruflich und alltäglich in ihre jeweiligen Lebenssituationen, Konflikte und Kämpfe, ins Ohneeinander und Gegeneinander gezwungen werden. So viel zu Sinn und Zweck von Bourdieus Elend der Welt, erstveröffentlicht auf Französisch 1993, also vor 20 Jahren. Staatsbürgerinnen, Staatsbürger, Menschen eben, sollten, so war Bourdieus Vorstellung, rechtzeitig gerade über all das zu reden anfangen, worüber öffentlich ansonsten und üblicherweise nicht geredet wird. Und immer mehr, immer mehr Menschen sollten das so machen. Und immer mehr reden. Die Leute – Leute hängt wie gesagt zusammen mit dem griechischen, altgriechischen eleutheros, frei –, die Leute sollten das Recht wirklich wahrnehmen können, über ihre wirklichen Probleme zu reden, ohne dass jemand zu ihnen sagt, sie haben überhaupt keinen Grund und kein Recht herumzujammern und außerdem ändere es sowieso nichts. Dieses offene, freie, rechtzeitige Reden waren – ich wiederhole mich absichtlich – der Sinn und Zweck von Bourdieus Monumentalwerk. Er versuchte unter anderem damit, der Ausweglosigkeit akut und prophylaktisch entgegenzuarbeiten. Dem angeblich unvermeidbaren oder angeblich zumutbaren Alltags- und Arbeitsleid, den alltäglichen, selbstverständlichen Zumutungen eben, die plötzlich zu den sogenannten Einzelschicksalen und schicksalhaften Verläufen, zu den Extremsituationen und Katastrophen führen.
Vielleicht werden Sie sich besser erinnern können als ich: Kanzler Wolfgang Schüssel hat in seiner Regierungszeit volkserzieherisch sogenannte Nichtraunzerzonen propagiert und installiert. Die kamen, medial bestens beworben, gut an in der Bevölkerung. Auch bei der damaligen Opposition, will mir scheinen. Die Roten und Grünen richteten sich in ihren Wahlkämpfen danach. Die Werke aus der Bourdieuschule wie Das Elend der Welt oder Gesellschaft mit begrenzter Haftung oder Ein halbes Leben sind jedenfalls keine Zonen zum Zwecke des Goschenhaltens. Die Leute in Bourdieus Elend der Welt erzählen außerdem sehr wohl auch, was ihnen hilft und das Leben leichter macht. Was das ist und wäre. Immer geht es in Bourdieus Gesamtlebenswerk um Menschen in Zwangssituationen, unten, oben, mitten drinnen.
In Bourdieus Augen ist übrigens das Berufsgeheimnis das größte Problem. Denn dadurch ändere sich nie etwas. Für die Ausübenden der helfenden Berufe zum Beispiel. Bourdieu: Die Lähmung der Gesellschaft funktioniert über das Berufsgeheimnis. Dass man sich weder ein- noch aussperren lassen darf, sagte er auch, und dass das das Gegenteil von Mittäterschaft sei. Ein Berufshelfer meinte einmal, in Fortführung von Bourdieu, die Supervisoren supervidieren den Sozialstaat; aber durch ihre Schweigepflicht sei alles nutzlos.
Der Sozialstaatsschuber Des Menschen Herz ist, soweit es nach mir geht, ein pataphysisches Unterfangen. Manche Pataphysiker lesen bei Veranstaltungen Telefonbücher vor. Und manche Leser meines Sozialstaatsromans halten diesen, wie ich weiß, für so unliterarisch wie ein Telefonbuch. Das freut mich durchaus. Ich verstehe Pataphysik als die Lehre von den Absurditäten, Zwangslagen und Ausweglosigkeiten und davon, wie man da rauskommt. Die sogenannten Situationisten etwa der 1968er-Zeit haben versucht, auch mittels Auseinandersetzung mit den Pataphysikern, aus der systematischen Zerstörungskraft von politischen, ökonomischen, zwischenmenschlichen Maschinerien herauszufinden. Pataphysiker sollen z. B. John Cage gewesen sein oder die Marx Brothers. Und der inzwischen uralte Sponti-Spruch Unter dem Pflaster liegt der Strand kommt von den pataphysischen Situationisten von anno dazumal her.
Wie auch immer, es gab einen mit Üblichkeiten und Unheimlichkeiten befassten Gesellschaftswissenschaftswissenschaftler, der, aus kleinsten Verhältnissen stammend, eigentlich Zauberer werden und dem Entfesselungskünstler Houdini nachkommen hat wollen und sich zuerst nach dem Zauberhelden der Tafelrunde des König Artus in King Merlin umbenannte. Sein späterer Name lautet Robert King Merton. Die Welt verdankt ihm unter anderem das solide Wissen um die selbsterfüllenden Prophezeiungen, um das sogenannte Thomastheorem, das da lautet: Wird eine Situation als real definiert, so sind ihre Folgen real. Merton hat seine Theorien in der Zeit der großen Weltwirtschaftskrise zu entwickeln begonnen. Mertons bahnbrechende Arbeiten zur Anomie, also zu den großen und kleinen gesellschaftlichen Zusammenbrüchen, durch die es in einem Gemeinwesen zum ganz alltäglichen Krieg aller gegen alle und jedes gegen jeden kommt, stammen aus dem Jahr 1938. Der Anomie-begriff selber stammt bekanntlich vor allem vom Franzosen Durkheim, der vor dem 1. Weltkrieg durch seine Forschungen die Solidarität zwischen Menschen ermöglichen wollte. Und dabei auch die Selbstmorde zu erklären und die Selbstmordepidemien zu lindern versuchte.
Die anomischen Gegenwärtigkeiten, die unter anderem zum Beispiel dadurch entstehen, dass jeder Mensch, jeder Arbeitnehmer, jede Arbeitnehmerin wissen muss, dass sie, dass er nicht gebraucht wird, sondern jederzeit durch einen anderen, durch eine andere ersetzt werden kann, beschrieben, so will mir scheinen – egal nun, ob der Begriff der Anomie dabei wortwörtlich verwendet wurde oder nicht –, z. B. der sozusagen frühe Martin Seligman, also Seligman I, in Erlernte Hilflosigkeit, Pierre Bourdieu im Elend der Welt, Richard Sennett in Der flexible Mensch, Baudrillard in Die Agonie des Realen. Der viel verworfene Jean Baudrillard, vormals Übersetzer von Bert Brecht und Peter Weiss und seines Zeichens eine Art Sozialphilosoph, der sich selber den Pataphysikern zurechnete, hat ab Ende der 1970er Jahre den völligen Realitätsverlust der Gegenwartsgesellschaft, nämlich den digitalen, internetlerischen, supervirtuellen Neokapitalismus als medialen Exzess, als obszöne, jedes Geheimnis zerstörende, hyperreale, permanente Simulation analysiert. Als Betrugsvorgang in Höchstgeschwindigkeit und ohne Ende. Als Lüge, die sich wahrlügt.
Im 5. Jahrhundert vor Christus und im 1. Jahrhundert vor Christus haben Thukydides und Sallust in Athen und in Rom, also in einer Art von Demokratie und in einer Art von Republik, solche verkehrte Welten, solche anomische Zustände, in denen die Worte und Werte plötzlich ihr eigenes Gegenteil bedeuten, solche demolierende, beschädigende Vorgänge und Pervertierungen für alle Ewigkeiten festgehalten. Sozialpsychologisch. Staatstheoretisch. Anfang des 20. Jahrhunderts tat dasselbe der sprachlich am Latein des verbannten Dichters Ovid geschulte Österreicher Karl Kraus. Der von Bourdieu hochgeschätzte Karl Kraus, der immer das Gefühl gehabt haben soll, das alles schon einmal erlebt zu haben und es deshalb so schnell begreifen und benennen zu können, beschrieb wie Thukydides und Sallust Korruption, Ausgeliefertsein, Ruin, Krieg, den Krieg im Inneren wie den Krieg nach außen. Vom Kriegstheoretiker Clausewitz, gestorben 1831, stammt bekanntlich der in den Militärakademien, in der Unternehmensführung und im Marketing unsterblich gewordene Satz: Der Krieg ist ein Chamäleon. Ich persönlich meine, dass das so ist; das Problem beginnt bei der Kindesmisshandlung und endet in der Weltwirtschaftskrise. Dazwischen Hilfseinrichtungen,