Wir sehen also, dass in der Religion eine bestimmte Reflexion auf den großen Zusammenhang beginnt, auf allgemeine Entstehung. Das sind die Anfänge philosophischer Reflexion.
Dann beginnen die Griechen zu fragen, wie sich denn über einen allgemeinen Ursprung, über einen Ursprung, der alles umfasst, den auch die Religion und die Göttergeschichten zum Thema haben, sprechen lässt. Und das so, dass wir nicht mehr mittels bestimmter Göttergeschichten darüber sprechen, sondern so, dass alle es verstehen können, alle, auch andere Völker.
Die Griechen hatten ja durch ihre Kolonien Kontakt mit verschiedenen anderen Völkern. Sie waren schon ganz interkulturell ausgerichtet. Und deswegen entsteht nicht im Kern Griechenlands, sondern in den Außenbereichen, dort, wo man den anderen Kulturen begegnet, in Kleinasien, an dessen Westküste, und in Unteritalien, ein neues Fragen nach dem Allgemeinen und dem allgemeinen Ursprung. Alle sollten es verstehen können. Und wie können es alle verstehen?
In Begriffen, die alle kennen. Das sind zunächst Begriffe, die aus der Anschauung genommen werden. So wird die Frage nach dem Ursprung zunächst ganz abstrakt gestellt, einfach die Frage nach dem allgemeinen Ursprung. Das Wort dafür ist im Griechischen “arché”. Die Antworten werden gegeben mit dem, was in gewisser Weise jeder begreifen kann und jeder sehen kann. Da sagt Thales: Es ist das Wasser, aus dem alles Leben kommt. Wo Wasser ist, da ist Leben. In der Wüste ist nichts davon, weil da kein Wasser ist.
Ein anderer sagt: Der Ursprung ist das, was wir „Atem“ nennen, also die Luft, das, was Leben spendet. Alles kommt also aus dem Atem oder aus der Luft.
Wieder ein anderer sagt: Die Ursprungskraft ist das Feuer. Das ist die arché, aus der sich dann alles differenziert. Wenn man das Erste noch dazu nimmt, aus dem nach Hesiod alles hervorgegangen ist, Gaia, die Erde, dann haben wir die vier klassischen Elemente, also Luft und Wasser, Feuer und Erde, die bis ins 19. Jahrhundert als Grundelemente des raumzeitlichen Kosmos galten.
So sprachen die Griechen über den allgemeinen Ursprung. Aber wenn die Vernunft und die Reflexion einmal begonnen haben, dann hört das nicht irgendwo auf. Ein Philosoph, Anaximander, sagte: Diese Begriffe, in denen die arché bisher gedacht wurde, sind noch zu anschaulich. Ein Bereich steht neben dem anderen. Wasser ist nicht Erde usw. Das Allgemeine, das Erste, muss anders zum Ausdruck gebracht werden. Er hat den Begriff Apeiron dafür. Es ist die Verneinung von Peras, die Grenze, meint also einfach das Unbegrenzte. Die arché ist also das Unbegrenzte.
Und ein anderer Philosoph, in Unteritalien, Xenophanes, knüpft an diese Reflexion über das „Eine“, aus dem alles stammt an. Er sagt, von daher ist auch die Religion zu betrachten. Diese ist so auf einen vernünftigen Gehalt zu bringen. Denn was ist denn eigentlich das Göttliche? Da spricht man von diesen vielen Göttern und erzählt irgendwelche Geschichten. Aber das sind doch nur unsere Vorstellungen, unsere Projektionen. Das kritische Nachdenken darüber führt zu dem, was der eigentliche Gehalt des Göttlichen ist. So ergibt sich bei Xenophanes eine Sicht der Religion, die einerseits kritisch ist, sehr kritisch sogar, und andererseits eine Erneuerung der Religion durch Vernunft und durch Philosophie darstellt.
Ich kann Ihnen Zitate vorlesen, die ganz amüsant sind. Xenophanes sagt: “Die Äthiopier behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz. Die Traker blauäugig und blond”. Die einen sagen das über die Götter, andere sagen wieder etwas anderes. Und dann gibt es den bissig ironischen Satz von ihm: “Wenn die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten und mit diesen Händen malen könnten und Bildwerke schaffen könnten wie Menschen, würden die Pferde die Götter in der Gestalt von Pferden abbilden. Die Rinder in der von Rindern. Und sie würden solche Statuen meißeln, ihrer eigenen Körpergestalt entsprechend”.
Das heißt, die Religion besteht weitgehend aus Projektionen. Nun, wir kennen diesen Begriff aus der Neuzeit. Nach Feuerbach ist die ganze Religion eine große Projektion. Aber bei Xenophanes ist das anders. Er entlarvt religiöse Vorstellungen als Projektionen, aber mit dem Ziel, die Religion selbst zu erneuern, zu vertiefen, und zu einem Gottesbegriff zu kommen, der der Vernunft Stand hält, dem alle zustimmen können, aus welcher Kultur sie auch kommen. Eben diese Allgemeinheit der Verständigung über das Umfassendste und Grundlegendste, das ist „Vernunft“. Somit ist in einer Reflexion über die Religion, über den religiösen Gehalt, das entstanden, was man im Abendland „Vernunft“ nennt. Xenophanes kommt auf diesem Wege schließlich sogar zu einem Gottesbegriff, der ein sehr erhabener ist und der sich an den Monotheismus annähert, wenn er sagt: “Ein einziger Gott ist unter Göttern und Menschen der größte, weder dem Körper noch der Einsicht nach den sterblichen Menschen gleich. Als Ganzer sieht er, als Ganzer versteht er”. Hier taucht der Begriff Noein, “Verstehen” auf., durch den der Gott gekennzeichnet wird.
Dann heißt es noch: “Immer verbleibt er am selben Ort, ohne irgendwelche Bewegung, denn es geziemt sich für ihn nicht, bald hierhin, bald dorthin zu gehen, um seine Ziele zu erreichen”.
Die Göttergeschichten erzählen nämlich, dass z.B. Zeus mal dahin und dorthin geht und die Opfer entgegennimmt. Das ziemt sich nicht für einen Gott. Gott muss also vernünftig gedacht werden, wie es einem Vernunftbegriff von ihm entspricht.
Die Bibel
Wir machen nun einen großen Sprung. Zur gleichen Zeit, in einem ganz anderen kulturellen Bereich, entsteht eine Reflexion über den eigenen Glauben, die im Ergebnis dem, was wir bisher sahen, ganz ähnlich ist. Es ist Palästina, und es sind die Texte der Bibel, mit denen wir es zu tun haben. In den ältesten Texten der Heiligen Schrift wird von Jahwe, von Gott noch in der Weise geredet, dass er zwar für das Volk der Einzige ist und nur er verehrt werden soll. Dabei wird aber nicht ausgeschlossen, dass es bei den anderen Völkern andere Götter gibt, die auch ihre Gültigkeit haben. Andere Menschen haben andere Götter. Wir, so sagt das Volk Israel, haben nur einen Gott. Wir verehren auch keine anderen Götter, nur ihn, Jahwe.
Die weitere Reflexion ist nun die: Wenn Jahwe wirklich der Gott ist, der für uns der Einzige ist, der unser ganzes Leben bestimmt, auch unsere ganzen Erfahrungen und alles sonst, dann kann er selbst nicht eine Größe sein, die nur eine Größe unter anderen ist. Denn das hieße, dass dieser Gott eingeordnet wäre in einen höheren Bezugsrahmen, und dieser Bezugsrahmen würde über ihn hinaus weisen. Das heißt, wenn wir an Gott glauben als den für uns entscheidenden und einzigen, dann muss er derjenige sein, der die Grundlage von allem ist, der über allem steht und damit auch über den anderen Göttern, von denen wir wissen. Er ist also im Grunde der einzige und der wahre Gott. Es kann eigentlich gar keinen anderen Gott geben als den einzigen und einen, und an den glauben wir.
Diese Reflexionen, die ich gerade zusammengefasst habe, entstehen in einem längeren Prozess, nämlich in dem Prozess von geschichtlichen Erfahrungen. David hatte das Königtum etabliert und man sagte: In ihm hat sich die Verheißung Gottes an uns erfüllt. Gott hat uns das Land gegeben und Könige. Dann aber bricht alles zusammen. Die Babylonier zerstören Jerusalem, das Volk wird deportiert, ins Exil gebracht.
Dort im Exil in Babylon sieht man die großen Tempel, die Statuen der Götter, und man fragt sich: Haben sich nicht diese Götter als mächtiger erwiesen als unser Jahwe? Sind sie nicht die wahren Götter?
Die theologische Reflexion ist nun folgende: Wenn wir an unseren Gott wirklich glauben, dann kann er nur derjenige sein, der die letzte Wirklichkeit ist. Mit diesem Gedanken ist man im Glauben zur letzten Wirklichkeit durchgedrungen, zu einer letzten Macht, die alles trägt. Wenn man mit der verbunden ist, dann sind alle Götter der Umgebung etwas Nachgeordnetes, nachgeordnete Mächte. Das Volk kann nun sagen: In unserer Situation, wo uns kein Staat mehr sichert, geht es darum, zu erfassen, worauf wir letztlich vertrauen können. Dieses Vertrauen, dieses letztliche Vertrauen, kann sich nur richten