Dann erlebte ich etwas Atemberaubendes. Meinem zweijährigen Sohn Jakob wurden wegen einer Bindehautentzündung Augentropfen verschrieben. Deren Verabreichung würde ihm natürlich Angst einjagen.
Ich stellte mir den Versuch vor, meinem zappelnden Kind die Medizin ins Auge zu träufeln, während ich ihm irgendwie mit meinen Knien die Arme festhalten würde. So eine Behandlung dreimal täglich über mehrere Tage und das Vertrauen meines Kindes wäre dahin.
Als unser Baby sein Schläfchen hielt, hatte ich die Idee, Jakob dabei zuzuhören, welche Gefühle diese Prozedur bei ihm auslösen würde. Vielleicht half uns das. Zumindest mir hatte es geholfen, dass man mir einfühlsam zuhörte. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde. Aber was hatte ich schon zu verlieren?
Also zeigte ich ihm das Medizinfläschchen und erklärte, dass ich ihm etwas von der Flüssigkeit in beide Augen einträufeln müsse. Da warf er sich aufs Bett und weinte heftig. Ich hörte dicht neben ihm aufmerksam zu. Ich sagte, die Tropfen würden die Augen heilen. Er weinte weiter.
Bei jedem leichten Nachlassen, setzte ich ihn behutsam auf, zeigte ihm das Fläschchen und sagte: „Ich muss dir das in die Augen träufeln. Das wird dir helfen.“ Und jedes Mal weinte er heftig. Nachdem dieses Hin und Her eine halbe Stunde gedauert hatte, fragte ich, ob ich ihm zeigen sollte, wie man die Flüssigkeit herausdrückte. Er wollte. Ich füllte die Pipette, hielt sie hoch und presste einige Tropfen zurück in die Flasche.
Er schaute zu und warf sich erneut weinend aufs Bett. So ging es weiter: vorführen, weinen, vorführen, weinen.
Dann bat Jakob, die Pipette selbst ausdrücken zu dürfen. Nach einigen Versuchen fragte ich, ob ich ihm jetzt die Medizin einträufeln könnte.
Wieder heulte er, und ich blieb nah bei ihm, hielt Augenkontakt und murmelte, wie leid es mir tat, dass das gerade so schwer war.
Kurz darauf hellte sich seine Miene auf. Er setzte sich und fragte: „Kann ich sie mir selbst reintun?“
Bestimmt wäre mir nie im Leben eingefallen, dass sich ein Zweijähriger selbst Augentropfen verabreicht! Ich antwortete: „Klar, versuch’s mal. Wenn es daneben geht, werde ich dir aber helfen müssen.“ Ich bat ihn, sich hinzulegen und füllte die Pipette. Dann führte ich ihm die Hand an die richtige Stelle über dem Auge. Und ich schaute zu, wie er zwei Tropfen in das offene Auge träufelte. Dasselbe tat er beim anderen Auge, setzte sich auf, grinste mich an und huschte zum Spielen davon.
War ich vielleicht überrascht! An den folgenden Tagen war das Einträufeln der Medizin für ihn so selbstverständlich geworden wie das Anziehen von Socken. Die Angst war weg.
An jenem Tag hatte ich einige wichtige Erkenntnisse gewonnen. Mir wurde klar, dass sehr viel Stress im Leben mit Kindern vermeidbar war.
Ich war bei guten Eltern aufgewachsen, die jedoch unter ungeheurem Stress standen. Welch unsägliche Verletzungen gute Eltern unter Stress anrichten konnten, hatte ich am eigenen Leib erfahren. Eltern benötigen dringend selbst ein Gefühlsventil! Und sie müssen ihre Kinder nicht beherrschen. Kinder können störrisches Verhalten zugunsten von Kooperation aufgeben, wenn nur die Eltern ihnen zuhören. Dann gäbe es in den Familien mehr Herzlichkeit und Nähe, wie es inzwischen bei uns der Fall war. Eltern könnten ihren Kindern vertrauen, notwendige Erwartungen an sie herantragen, zuhören und sich mit ihnen verbinden. Dann würden die Kinder gedeihen.
Ich verstand, dass das Zuhören eine kraftvolle und respektvolle Möglichkeit war, um Liebe auszudrücken. Und am Ende erreichte man damit seine Ziele. Auf diese Art und Weise mit Kindern umzugehen fühlte sich gut an – ein Arbeiten mit den Gefühlen der Kinder, anstatt gegen sie. Jetzt hatte ich meine Lebensaufgabe gefunden.
Seither habe ich die meiste Zeit damit verbracht, meine beiden Söhne ins Leben zu begleiten und mir zu erarbeiten, wie sich Eltern hilfreiche Unterstützung aufbauen können. Ich hatte das Vorrecht, mehr als vier Jahrzehnte mit Tausenden von Eltern und Kindern zu arbeiten und dabei zu erfahren, wie Eltern die unterschiedlichsten Schwierigkeiten ihrer Kinder bewältigen, indem sie sich mit ihnen verbinden und ihren Gefühlen zuhören. Der Erfolg kann sich schnell einstellen, wie damals bei meinem Sohn, oder man muss sich auf einen längeren Prozess einlassen. Jedenfalls bin ich sicher, dass es als Eltern in unserer Macht steht, unsere Kinder bei der Überwindung von allerlei Hürden zu unterstützen. Und indem wir Eltern uns gegenseitig zuhören, können auch wir wachsen.
Nachdem ich wiederholt erlebt hatte, welch große Wohltat das Zuhören für Eltern und Kinder sein kann, wollte ich meine Ideen anderen Eltern verfügbar machen. Also gründete ich 1989 mit Hilfe von Freunden und weiteren Fürsprechern das heutige „Hand in Hand Parenting“ – eine von Eltern geleitete, gemeinnützige Organisation. Solange wir die Arbeit in unseren eigenen praktischen Erfahrungen verankerten, wuchs sie langsam. Heute aber unterstützen wir Eltern in großem Stil.
Tosha Schore stieß 2005 zu einer meiner fortlaufenden Elterngruppen. Mit dem „Hand in Hand Parenting“ hatte sie meisterhaft viele familiären Herausforderungen bewältigt, darunter Krankheit, Trauma und Schulschwierigkeiten. Inzwischen Mutter von drei Söhnen, ist sie Ausbilderin bei „Hand in Hand“ und arbeitet international als Elternberaterin, Fürsprecherin für Jungen und Bloggerin.
Ich mag ihren Sinn fürs Wesentliche, ihren Sachverstand, Mut und die Fähigkeit, in ihrer Arbeit guten Beziehungen weiterhin Priorität zu verleihen. Mir war Toshas Stimme in diesem Projekt wichtig.
„Hand in Hand“ beruht auf all unseren Lernerfahrungen. Wir sind stolz darauf, dass wir Sie an unserer Erfahrung teilhaben lassen können, sowie an den Geschichten von über siebzig Eltern aus fünf Kontinenten. „Hand in Hand“ ist ein auf „Hand in Hand“ basierendes Gemeinschaftswerk, das Ihnen hervorragende Strategien vermittelt, damit Ihre Liebe zu Ihren Kindern auch wirklich durchdringt. Ich hoffe, Sie werden davon profitieren.
Patty Wipfler
Gründerin und Programmleiterin von „Hand in Hand Parenting“
Vorwort von Tosha
Bei meiner Geburt hieß ich Heather Megan Schore – benannt nach dem schönen lila Heidekraut, das die Hügel in meiner Heimat bedeckte. An meine frühe Kindheit habe ich verklärte Erinnerungen: Schaukeln, Beerenpflücken, in einem Beanbag [ein Sitzsack] gemütlich am Feuer sitzen und zum Schutz des paradiesischen Gemüsegartens den gefräßigen Schnecken mit Salz zu Leibe rücken.
Ich war gerade fünf Jahre alt, da ließen sich meine Eltern scheiden und mein geliebtes Zuhause wurde verkauft. Mein Vater verließ den Staat und meine Mutter und ich zogen weit, weit fort von all meinen Freunden.
Daraufhin wurde ich ein sehr zorniges Mädchen. Meinen Vater „hasste“ ich, auf meine Mutter war ich wütend, mich selbst nannte ich Tosha, wechselte während der Kindergartenzeit dreimal die Einrichtung und verbrachte mein erstes Schuljahr vornehmlich im Direktorat.
Zum Glück hatte ich eine Mutter, die immer meine guten Seiten im Blick behielt. Sie stand auch dann zu mir, wenn ich um mich trat, brüllte und in der Schule Ärger bekam. Weil Sie sich gut um ihr eigenes Gefühlsleben kümmerte, konnte sie meinen Wutanfällen zuhören, ohne diese persönlich zu nehmen oder die Fassung zu verlieren. Mama war mein starker Fels.
Heute bin ich die Mama. Ich bin verheiratet und habe selbst drei Söhne, von denen mich jeder auf seine Weise herausfordert. Die Entscheidung zur Elternschaft war bisher zweifellos meine beste. Ich bin gern Mama, aber es ist nicht immer leicht.
Als mein zweiter Sohn geboren wurde, reagierte ich auf alltägliche Herausforderungen zunehmend barscher als beabsichtigt, was mich belastete. Ich brauchte wirklich Hilfe. Was konnte ich tun, wenn mein Zweijähriger nachts plötzlich wieder alle zwei Stunden gestillt