Pergamente und Papyri. Hans Johan Sagrusten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Johan Sagrusten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783438072429
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von je acht Bögen zusammengefaltet, in Buchform zusammengelegt und am Rücken zusammengenäht worden. Die Schrift verläuft über vier Spalten, mit ausreichend Platz zwischen den Spalten sowie entlang der Ränder. Aufgeschlagen macht das Buch einen imposanten Eindruck, mit acht schnurgeraden Spalten und einer Breite von 76 cm von Seitenrand zu Seitenrand. Die großzügigen Ränder belegen, dass bei der Fertigung des Manuskripts an nichts gespart wurde; das feine Pergament war äußerst kostbar, dennoch legten die Schreiber Wert auf ein schönes und luftiges Layout. Die Handschrift ist schön und gleichmäßig. Laut Untersuchungen haben vermutlich vier verschiedene Personen dieses Manuskript per Hand verfasst.

      Aber waren die Schreiber vielleicht mehr daran interessiert, schön anstatt richtig zu schreiben? Der Codex Sinaiticus ist nämlich ein Manuskript mit ungewöhnlich vielen kleinen Schreibfehlern. Auf jeder Seite finden sich Korrekturen, bei denen der Schreiber selbst oder jemand aus seinem Umfeld vergessene Buchstaben und Wörter ergänzt hat. Zudem wurden in späteren Jahrhunderten viele Korrekturen und Änderungen an dem Manuskript vorgenommen. Jemand mit Zugang zu anderen Manuskripten, in denen Wörter und Sätze anders geschrieben waren, hat sie in den Text eingefügt. Viele dieser Stellen wurden ein weiteres Mal bearbeitet und die Korrekturen dabei zurückgenommen. Das verweist auf einen langen und spannenden Werdegang des Manuskripts. In modernen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments werden alle diese verschiedenen Korrekturen und Änderungen mit den Zahlen 1,2,3 usw. in den Fußnoten markiert, während der ursprüngliche Text, vor all den Änderungen, mit einem Stern (*) markiert wird.

      Tischendorf betrachtete den Codex Sinaiticus als das wichtigste und beste Manuskript des Neuen Testaments. Um dies zu unterstreichen, gab er ihm ein ganz besonderes Symbol, als er 1869 eine gedruckte Ausgabe des griechischen Textes anfertigte: Den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, Aleph (

). Alle lateinischen Buchstaben waren belegt, und der Buchstabe A war bereits als Symbol für den Codex Alexandrinus verwendet worden. Nach Ansicht Tischendorfs war das neue, von ihm im Kloster gefundene Manuskript viel wichtiger und musste daher ein Symbol bekommen, das vor dem Buchstaben A stehen konnte. Somit fiel die Wahl auf Aleph, den damit einzigen hebräischen Buchstaben, der als Symbol für ein neutestamentliches Manuskript verwendet wurde.

      Auch heute noch hat der Codex Sinaiticus einen Ehrenplatz unter den alten Manuskripten des Neuen Testaments. Er ist das älteste, von der ersten bis zur letzten Seite komplett unbeschädigte Exemplar des Neuen Testaments. Einen Beitrag zur Stellung des Manuskripts leistete wohl auch die besondere Geschichte rund um dessen Auffinden durch Tischendorf sowie die Berühmtheit, die es danach erlangte. Später wurden viele Papyrusmanuskripte gefunden, die noch älter sind als der Codex Sinaiticus. Aber keines dieser Manuskripte ist so schön und unversehrt wie die große Bibel aus dem Kloster am Sinai.

      Im Großen und Ganzen haben die neuen Papyrusfunde des 20.Jahrhunderts nur bestätigt, wie wichtig der Codex Sinaiticus ist. Sie belegen, dass es sich bei dem Manuskript vom Sinai um eine frühe Textform handelt und der Codex Sinaiticus somit noch immer ein wichtiges Zeugnis der Bibeltexte der ersten Jahrhunderte ist. Auch in Zukunft wird der Codex Sinaiticus für Forscher wichtig sein, wenn es darum geht, welche Textform den Ausgangspunkt für neue Bibelübersetzungen bilden soll.

      Fakten Codex Sinaiticus:

       Symbol in der Textforschung:

       Schreibmaterial: Pergament.

       Gefunden 1859, publiziert 1862.

       346 Bögen (694 Seiten).

       Seitengröße: 43 × 38 cm.

       Text vierspaltig.

       Erstellt von drei oder vier verschiedenen Schreibern.

       Beinhaltet das gesamte Neue Testament (sowie den Barnabasbrief und Teile des Hirten des Hermas) und das Alte Testament ab dem 1.Buch der Chronik 9,27 (sowie einige Fragmente der Bücher des Mose).

       Datierung: ca. 350 n.Chr.

       Aufbewahrung in der British Library in London (347 Bögen), in der Universitätsbibliothek Leipzig (43 Bögen), in der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg (Teile von 6 Bögen) und im Katharinenkloster (mindestens 18 Bögen).

       Online zu sehen unter: www.codexsinaiticus.org

      Eine Entdeckung der Gegenwart rückt den Fund des Codex Sinaiticus in ein neues Licht. In einer Mauernische des Katharinenklosters wurden mehrere alte Manuskriptbögen entdeckt.

      Im November 1971 brach im St.-Georg-Turm des Katharinenklosters ein Brand aus. Das Feuer war der Auftakt zu einem neuen und unerwarteten Kapitel der Geschichte. Denn niemand hatte geglaubt, dass sich in den hohen Klostermauern noch mehr Schätze verbargen. Nachdem der Codex Sinaiticus entdeckt worden war, hatten Forscher neben der Bibliothek auch jeden noch so abgelegenen Winkel des Klosters nach weiteren alten Manuskripten durchsucht. Keiner von ihnen hatte jedoch mit weiteren Funden gerechnet. Aber genau das ist passiert. Dazu wenden wir uns der Zeit zu, in der das Kloster drei, vier Jahre nach dem Brand restauriert wurde.

      Arkimandritt Sofronius hat viele Jahre seines Lebens darauf verwendet, Geld für die Restaurierung des St.-Georg-Turms zu sammeln. Auch die Nordwand des Klosters war durch den Brand beschädigt worden und bedurfte der Reparatur. 1975 können die Arbeiten endlich beginnen. Am 25.Mai kommt es zu einer großen Entdeckung. Sie ist der Anfang eines der größten Manuskriptfunde des 20.Jahrhunderts.

      Durch die Hitze des Feuers ist der Putz an einigen Stellen der Klostermauer aufgeplatzt. Als die Arbeiter den beschädigten Putz abschlagen, entdecken sie in der Mauer eine ehemalige Öffnung, die mit Holz, Erde und Steinen aufgefüllt worden war. Niemand weiß, was sich dahinter befindet. Denn soweit die Erinnerungen reichen, hat die Mauer so dagestanden; nicht einmal die ältesten Mönche erinnern sich, dass jemand von einem alten Raum an dieser Stelle der Mauer gesprochen hätte. Die Öffnung muss also schon sehr lange verschlossen sein. Als einer der Mönche ein Loch in die Wand schlägt, findet er dahinter, zwischen Erde und Gestein, einen alten Pergamentbogen. Liegen dort drin eventuell noch weitere Bögen?

      Arkimandritt Sofronius entschließt sich, die einstige Öffnung mit den bloßen Händen freizugraben. Innerhalb von 44 Tagen füllt er 47 große Kartons mit Manuskripten und Manuskriptresten. Von seinem Fund erzählt Sofronius niemandem. Lediglich Erzbischof Damianos erstattet er regelmäßig Bericht über seine Arbeit. Einen Monat nach Beginn der Ausgrabungen, am 25.Juni 1975, macht Sofronius einen Fund, den niemand für möglich gehalten hatte. Es besteht kein Zweifel: Das Seitenformat, die geraden Spalten, die Form der Buchstaben, die hohe Qualität des Pergaments – alles weist in die gleiche Richtung: Er hat einen weiteren Bogen des Codex Sinaiticus gefunden, des ältesten kompletten Exemplars des Neuen Testaments. Direkt vor ihm liegt eine Seite des Alten Testaments, die zu dem Teil des Manuskripts gehört, von dem bisher angenommen worden war, die Mönche hätten ihn vor mehr als einhundert Jahren verbrannt.

      Der Fund in dem alten Raum des Katharinenklosters verfügt über ausreichend Sprengkraft, um den ganzen Mythos des Codex Sinaiticus auf den Kopf zu stellen. Der bekannten Erzählung zufolge waren die Mönche 1844 drauf und dran, das Manuskript zu verbrennen. Ein großer Korb mit alten Manuskriptbögen habe bereits neben dem Ofen gestanden. Da sei Tischendorf gekommen und habe einige der alten Manuskriptbögen gerettet. Er kam also wie gerufen; nach Aussage der Mönche hatten sie bereits zwei Körbe voll davon verbrannt. Deshalb habe Tischendorf alles darangesetzt, das Manuskript aus dem Kloster zu holen, um es für die Nachwelt zu bewahren.

      Das Problematische an dieser Erzählung ist, dass sie einzig und allein auf einer Quelle beruht: dem Tagebuch Tischendorfs. Niemand anderes kommt zu Wort, am wenigsten die Mönche, die 1844 in dem Kloster lebten und Tischendorf empfingen. Daher stellt sich die Frage, ob Tischendorf das Ganze erfunden hat? Oder hat er die Geschehnisse irgendwie missverstanden? Ging beim Anblick eines Korbes voller Manuskriptbögen in einem Kloster die Fantasie mit ihm durch? Hatte er in der Bibliothek Körbe gesehen, die jenen ähneln, die man in der Küche für frisch gebackenes Brot verwendete? Glaubte er deshalb, die leeren Körbe neben dem glühend heißen Backofen kämen aus der Bibliothek, voll gepackt mit