Wir empfinden die Zeit als Hintergrund zu allem, was wir tun, zu jedem Augenblick unseres Lebens, sie ist eine Art leeres Behältnis, in dem wir unser Leben unterzubringen suchen. Unsere vage Vorstellung von Zeit ist die einer Linie auf weißem Papier. Wir teilen sie in Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden ein. Die Sekunden ticken dahin, und die Zeit geht uns aus. Manche hasten umher und versuchen so viel wie nur eben möglich an Erinnerungen und Gedanken und Bilder unseres Lebens in die Zeit zu stopfen.
Was wir tun, erleben wir eigentlich nicht dann, wenn wir es tun. In jedem Augenblick ändert sich unser Leben, aber wir fühlen es nicht, wir empfinden die Qualität des Augenblicks nicht. Erst am Ende des Tages oder des Jahres blicken wir zurück und ziehen Bilanz, um zu sehen, wie erfolgreich wir waren. Als ich klein war, sagte meine Mutter bei allem, was Spaß machte, immer: »Also, das wird uns eine nette Erinnerung sein, nicht?« So sind wir immer mehr darauf aus, unserem Gedächtnis immer mehr Erinnerungen einzuverleiben – ohne sie wirklich zu erleben. All das ist sehr traurig.
Dabei gibt es in Wirklichkeit keine absolute Zeit außerhalb der wechselnden Ereignisse. Auf keinem Gebiet der Wissenschaft gibt es irgend etwas, das auf die tatsächliche Existenz einer linearen, universalen, objektiven Zeit hindeutete. Die Wissenschaft hat einfach angenommen, daß es diese Zeit gibt, und wir glauben inzwischen an sie und lassen unser Leben von ihr vorwärtspeitschen – häufig bis zum Zusammenbruch. Wir können uns ein Leben ohne sie nicht vorstellen.
Wenn Du jeden Augenblick Deiner sich ändernden Erfahrung einmal genau betrachtest, findest Du außerhalb der Veränderung als solcher nichts, was Zeit genannt werden könnte. Die Zeit ist nicht getrennt von den wechselnden Erscheinungen. Wir messen die Zeit ja sogar anhand von wechselnden Zahlen oder wandernden Zeigern. Auch bei den Atomuhren der Wissenschaftler beruht Zeitmessung auf Veränderung.
Vieles beeinflußt den gegenwärtigen Augenblick. Dabei können auch Einflüsse von außerhalb der geraden und schmalen Linie der absoluten Zeit kommen (die ja, um es zu wiederholen, imaginär ist, eine Erfindung). Und es gibt Phänomene, die dieser Auffassung von Zeit direkt widersprechen. Eines dieser Phänomene nennt man »bedeutsame Koinzidenz«; ein anderes ist die Präkognition, also das Vorherwissen zukünftiger Ereignisse.
Präkognition existiert zwar wie gesagt für die konservativen Wissenschaftskreise nicht, aber tatsächlich ist sie inzwischen durch ernstzunehmende wissenschaftliche Untersuchungen gut dokumentiert. In einem späteren Brief werde ich Dir von ein paar wissenschaftlichen Experimenten erzählen, mit denen sich die Präkognition nachweisen läßt. Hier will ich nur erwähnen, daß Statistiker 1989 die Resultate aller in den letzten fünfzig Jahren zum Thema Präkognition durchgeführten Experimente zusammengetragen und statistisch ausgewertet haben (man nennt das eine Meta-Analyse). Sie bezogen 309 Studien von zweiundsechzig Forschern ein; erfaßt wurden fast zwei Millionen Einzelversuche, an denen über fünfzigtausend Probanden teilgenommen hatten. Die Frage, ob die Präkognition damit alles in allem als nachgewiesen angesehen werden kann, wurde eindeutig mit Ja beantwortet. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Resultate all dieser Experimente durch Zufall zustande kamen, ist 1 zu 1024 (wobei 1024 eine 1 mit 24 Nullen ist).
Sehen wir uns jetzt aber mal ein paar Geschichten über Präkognition an.
Am 12. Oktober 1966 kam in der Grubenstadt Aberfan in Wales eine Kohlenhalde ins Rutschen und begrub eine Schule unter sich, wobei 128 Kinder und sechzehn Erwachsene ums Leben kamen. Am Abend des 20. Oktobers erzählte eine Frau sechs Bekannten von einem Wachtraum, den sie gehabt hatte: »Erst sah ich eine alte Schule in einem Tal, dann einen walisischen Kumpel und dann eine Kohlenlawine, die den Berg herunter kam …« Als sie dies träumte, befand sie sich mehr als dreihundert Kilometer von Aberfan entfernt. Eine andere Person sagte sieben Tage vor der Katastrophe zu zwei Freunden: »Ich hatte einen grauenhaften Traum von einer furchtbaren Katastrophe in einer kleinen Zechenstadt. Das war in einem Tal mit einem großen Gebäude voller Kinder. Berge von Kohle und Wasser kamen das Tal heruntergestürzt und begruben das Gebäude. Die Schreie der Kinder waren so echt, daß ich selber schrie.«
Es gibt noch mindestens zwei weitere derartige Berichte aus der Zeit vor der Katastrophe. Die traurigste Geschichte ist wohl die eines kleinen Mädchens, das an jenem Morgen zu ihrer Mutter sagte, sie sei im Traum in der Schule gewesen und plötzlich sei alles schwarz geworden. Das Mädchen flehte die Mutter an, sie nicht zur Schule zu schicken, aber diese hörte nicht auf sie.
In den sechziger Jahren kündigte der bekannte britische Autor J. B. Priestley im Fernsehen an, er wolle eine Untersuchung zu ungewöhnlichen Zeit-Erfahrungen durchführen. Die Zuschauer wurden aufgefordert, ihm zu schreiben, und er erhielt Tausende von Briefen. Er verfügte über ein Team von ausgebildeten und natürlich skeptischen Forschern, die diejenigen Berichte aussortieren sollten, die auf Betrug oder offensichtlichen Irrtümern beruhten oder auf »natürliche« Weise zu erklären waren. Es blieben Berichte übrig, auf die keine dieser Erklärungen anzuwenden war, und diese wurden als Buch veröffentlicht. Einer von Priestleys Berichten betraf den Luftwaffenpiloten Sir Victor Goddard, der sich 1934 bei Nebel und Regen über Schottland verflogen hatte. Dann sah er unter sich den Flugplatz von Drem. Goddard sah einen voll betriebsbereiten Landeplatz mit Mechanikern in blauen Overalls, die sich an vier gelben Maschinen zu schaffen machten und nicht die Reihe verwahrloster Hangars zwischen Feldern, die Drein damals tatsächlich war. Vier Jahre später entstand genau das, was Goddard gesehen hatte: Der Flugplatz wurde hergerichtet und wieder eröffnet; die Schulflugzeuge waren jetzt gelb (und nicht mehr silbern wie früher), und der blaue Overall war zur Standardbekleidung der Flugzeugmechaniker geworden.
Viele Menschen haben ähnliche Präkognitionen wie Goddard, können sie aber in der Welt, an die wir glauben, nirgendwo unterbringen. Also sagen sie sich, es sei wohl eine Täuschung gewesen, oder sie behalten ihre Erfahrungen für sich, damit niemand sie für verrückt hält. Wenn ich von solchen Dingen vor einer Gruppe spreche, ist häufig ein hörbares Seufzen der Erleichterung die Folge – und dann erzählen sie Geschichten, die sie immer für sich behalten haben, die ihnen aber unter die Haut gingen und zu den bedeutsamsten Dingen ihres Lebens zählen. Psychotherapeuten hören oft Geschichten von Präkognition; in der therapeutischen Situation haben die meisten wohl weniger Angst, daß man sie für ein bißchen verdreht hält, außerdem achten sie mehr auf Träume und flüchtige Bilder und sind eher bereit sich mitzuteilen. Was diese Berichte so glaubwürdig macht, ist, daß sie so gar nichts Spektakuläres an sich haben. Solche Erlebnisse kommen einfach, wir haben keinen Einfluß auf sie, und häufig sind sie ohne besondere Bedeutung.
Alle diese Geschichten zeigen, daß wir uns von dem Gefühl freimachen müssen, die Zeit sei außerhalb von uns. Wir müssen das Gefühl loswerden, daß die Zeitlinie absolut und das objektive Behältnis unserer gesamten Erfahrung ist.
Wissenschaftler jedoch entwerfen ein Weltbild, in dem die Zeit immer den Hintergrund bildet. Die Welt, von der sie reden, ist niemals die Welt dieses Augenblicks. Es ist eine allgemeine Welt mit allgemeinen Menschen, Tieren, Bäumen, die allgemeine Dinge tun. Daraus kann man natürlich nur allgemeine Gesetze ableiten. Wissenschaftlich läßt sich nichts aussagen über den bestimmten Menschen Vanessa in diesem besonderen Augenblick, nämlich am heutigen Tag und zu genau dieser Stunde und Minute.
Vielleicht ist Dir schon der neue Trend bei der Fernsehwerbung aufgefallen: Man zeigt keine richtigen Filme mehr, sondern Computeranimationen. Eine Bausparkasse beispielsweise zeigt nicht mehr richtige Menschen vor einem richtigen Eigenheim, sondern eine Computersimulation; und eine Autofirma zeigt ein computersimuliertes Auto bei der Fahrt auf einer computersimulierten Straße.
Als ich das zum ersten Mal sah, fiel mir die sonderbare Wirkung auf: Die Computerbilder schienen mir eindrücklicher als die eines herkömmlichen Films oder Fotos zu sein. Die Computerbilder von Häusern und Autos wirken irgendwie wirklicher als wirkliche Bilder. Ein reales Haus und seine Umgebung können nie so makellos und vollkommen dastehen wie