Die spezielle Technik, die er entwickelte, um mit seiner menschlichen Natur zu arbeiten, bezeichnete er als die Entwicklung von „Achtsamkeit“ (Pali: sati; Skrt.: smriti). Dazu bedarf es einer absichtslosen, wertfreien Betrachtung des physischen und geistigen Verhaltens von Moment zu Moment. Mit achtsamer Aufmerksamkeit betrachtete er einfach nur seinen Körper – seine Positionen und Bewegungen, seine einzelnen Teile, seine Empfindungen und seine Unbeständigkeit; er betrachtete seine Gefühle und emotionalen Prozesse sowie die Art und Weise, wie seine Sinne, Wahrnehmungen und Gedanken mit der äußeren Welt verbunden sind.
Siddhartha bediente sich der Konzentration, die er bei seinen Yoga-Lehrern kennen gelernt hatte, und richtete sie auf die Betrachtung seines Körpers und Geistes, um sich dadurch vollkommen bewusst zu machen, wie sie funktionieren und von welchen Bedingungen sie abhängen. Einerseits tat er dies, um seinen Körper und Geist unbeschränkt positiv einsetzen zu können, andererseits konnte er sich dadurch vollständig von seinen vorgefassten Ansichten über die Funktionsweise von Körper und Geist befreien. Noch wichtiger ist jedoch, dass er sich so von seiner Unbewusstheit über die Funktionsweise von Körper und Geist und ihrem Bezug zur Welt befreite. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass die Lösung für das Problem des Leidens, das ihn zu seiner Suche veranlasst hatte, in ihm selbst lag oder, wie er es ausdrückte, „in diesem sechs Fuß langen Körper“. Es ist sicherlich interessant, dass ganz am Anfang von Buddhas Yoga bereits der Samen zu finden ist, der 1000 Jahre später überall in Indien die tantrische Bewegung entstehen ließ: In der Zwischenzeit hatten sich nämlich viele Praktizierende des buddhistischen und hinduistischen Yoga in der Vorstellung verfangen, dass der Körper nicht so sehr das Werkzeug der Befreiung, sondern vielmehr ein Hindernis zu ihrer Verwirklichung darstellt.
In der Praxis der Achtsamkeit wurde ihm das Ausmaß des Leidens (Pali: dukkha; Skrt.: duhkha) immer deutlicher, und sie zeigte ihm, wie die Aktivität des Anhaftens, der Abneigung und der Unwissenheit dieses Leiden schüren. Indem er diese Geisteszustände betrachtete, ohne sich mit ihnen zu identifizieren, ohne dem stark empfundenen Wunsch nachzugeben, sie auszudrücken, aber auch – was genauso wichtig ist –, ohne sie zu unterdrücken, sondern indem er stattdessen immer nur vertrauter mit ihnen wurde, begriff er, dass alles unbeständig ist. Alles ist im Fluss und verändert sich beständig. Nichts ist von Dauer – weder das Anhaften noch das, was es ergreift, und auch nicht das Glücksgefühl der Meditation selbst.
Durch diese Beschreibung können wir verstehen, dass Buddhas Achtsamkeits-Meditation „analytischer“ ist als einige andere Meditationsformen, die uns vielleicht bekannt sind, wie zum Beispiel innere Mantra-Rezitationen und Visualisierungen. Der Prozess, den Buddha lehrte, besteht jedoch nicht einfach nur aus Nachdenken. Achtsamkeits-Meditation ist kein rein diskursives Denken, sondern – was ich immer wieder betonen werde – eine Art von Yoga, die uns ein anschaulicheres, unmittelbar gelebtes Verständnis vermittelt, als rein rationale Prozesse dies tun können.
Neben der Praxis der Achtsamkeit entwickelte Buddha gewisse hilfreiche Geisteszustände, die er die „Vier Unermesslichen“ nannte und als brahma viharas (wörtlich: „Wohnorte Brahmas“ oder „göttliche Verweilzustände“) bereits in den alten yogischen Lehren kennen gelernt hatte. Die erste dieser Unermesslichkeiten ist eine Praxis, die zur Entwicklung eines offenen Gefühls der Liebe (Pali: metta; Skrt.: maitri) ermutigt, einer Liebe ohne Hass gegenüber allen Wesen, sichtbaren und unsichtbaren, großen und kleinen, in dieser und in allen weiteren Welten. Bei der zweiten handelt es sich um unterstützendes Mitgefühl (karuna), in dem es kein Gefühl der Trennung zwischen Meditierendem und jenen, die leiden, gibt. Die dritte ist die Entwicklung von Mitfreude (mudita), die sich am Glück anderer erfreut, ohne dabei an sich selbst zu denken. Die vierte schließlich ist ein Zustand des Gleichmuts (Pali: upekkha; Skrt.: upeksha), der ein Loslassen der Ich-Zentriertheit erfordert, aus der heraus wir andere Dinge und Menschen als Objekte betrachten, die uns entweder zum Vorteil oder zum Nachteil gereichen. Gleichmut ist weder Desinteresse noch Gleichgültigkeit, sondern die Qualität eines Geistes, der alle Wesen als gleich betrachtet und keines dem anderen vorzieht.
Die Erleuchtung Buddhas wird in vielen Lehrreden aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Die ältesten Berichte beschreiben sein Erwachen alle in eher nüchternen psychologischen Formulierungen. Zumeist ist in ihnen von vier Meditationszuständen die Rede, die jhanas (Skrt.: dhyanas) genannt werden und in der Erkenntnis des Leidens, seiner Ursache, seiner Beendigung und des Pfades, der zu seiner Beendigung führt, gipfelt.
In den Worten Buddhas, die im Pali-Kanon überliefert sind, „neigte oder richtete er seinen Geist“ auf verschiedene Meditationsobjekte, unter anderem auf die Erinnerung an frühere Leben, die Funktionsweise des Karmas und die Untersuchung des Leidens, seiner Ursachen und wie es beendet werden kann. Dem Pali-Kanon zufolge erstreckte sich sein Erwachen über die Spanne von drei „Nachtwachen“ (zirka neun Stunden), doch dabei handelt es sich wohl eher um einen verdichteten mythischen Zeitrahmen. Wahrscheinlich dauerte es Tage oder sogar Wochen ab dem Zeitpunkt, an dem er seine Selbstkasteiungen aufgab.
Trotz Buddhas eigener, präziser Beschreibungen, die uns in den Pali-Sutras vorliegen, wurde sein Erwachen immer mehr als etwas ganz anderes dargestellt und als mystische Erfahrung einer transzendenten Offenbarung der Wahrheit verschleiert. Unglücklicherweise haben viele Autoren seine Erleuchtung mit dem Aufleuchten eines Blitzes verglichen. Selbstverständlich gibt es solche blitzartigen Einsichten, doch dabei handelt es sich nicht um das vollständige Erwachen, das Buddha beschrieben hat.
Buddhas Erwachen nahm also mindestens neun Stunden in Anspruch. Er selbst warnte davor, „dass der Fortschritt schrittweise erfolgt und es keine plötzliche, spontane Erkenntnis gibt“. Außerdem wurde der Prozess des Erwachens offenkundig von der Vernunft gesteuert. Darauf weist in den Texten die dreimal wiederholte Formulierung „Ich richtete meinen Geist auf die Erkenntnis des …“ hin. Siddhartha richtete seinen Geist auf eine tiefere Erkenntnis der upanischadischen Lehren über die Reinkarnation (die Buddha als „Wiedergeburt“ umformulieren sollte – was nicht dasselbe ist wie die traditionelle brahmanische Anschauung) und des Karma. Seine „Vier Edlen Wahrheiten“ (die ich im nächsten Kapitel beschreiben werde) basieren auf dem vedischen Modell des ayurveda, jenes alten indischen Heilsystems, das bis heute praktiziert wird und im Westen immer populärer wird.
Buddha hat nie behauptet, dass seine Lehren eigene Schöpfungen sind. Seine ersten drei Edlen Wahrheiten hätten bei den Shramanas Nordindiens und den upanischadischen Heiligen keinen Widerspruch hervorgerufen. Die vierte Wahrheit, der Pfad, wurde von Buddha als ein uralter Weg beschrieben, den bereits andere in einer fernen Vergangenheit beschritten hatten, der jedoch in Vergessenheit geraten war und durch ihn einfach nur wiederentdeckt wurde. Er sprach von seiner Einsicht in die Dinge „wie sie wirklich sind“: Seine Lehre beruhte nicht auf philosophischen Konzepten, sondern der Pfad war der Struktur der Wirklichkeit eingeschrieben. Falls es überhaupt ein „Aufleuchten eines Blitzes“ gegeben hat, dann vielleicht als plötzliche Einsicht in die Verbundenheit dieser vier Wahrheiten und in die Erkenntnis, dass es sich dabei um eine Methode handelt, die, angewendet, tatsächlich zur Befreiung führt.
Wieso Buddhas eigene Schilderung in den Mystizismus einer reinen Offenbarung der Wahrheit umgedeutet wurde, lässt sich vielleicht mit der historischen Verwandlung der Lehren Buddhas in eine Religion erklären. Buddha war kein „Buddhist“ – und seine ursprünglichen Anhänger und Anhängerinnen auch nicht. Buddha entdeckte den Dharma (im Gegensatz zu erfinden oder entwickeln) und lehrte daraufhin den Dharma. Seine Anhänger waren Praktizierende des Dharma. Nach seinem Tod wurden die grundlegenden Lehren und Instruktionen im Laufe der Zeit von religiösen Interpretationen überlagert. Komplexität wurde, wie so oft, auf Einheitlichkeit reduziert. Anstatt den verflochtenen Komplex von Wahrheiten, den Buddha gelehrt hatte, als Methode der Betrachtung und Praxis hervorzuheben, verlagerte sich die Betonung – möglicherweise unter dem Einfluss vedantischer und upanischadischer Lehren – auf eine einzige, absolute Wahrheit. Dadurch verwandelte sich eine soteriologische (d. h. Befreiungs-) Lehre und Methode der Praxis in eine metaphysische Epistemologie oder ein Glaubenssystem.