Achtsamkeits - Yoga. Frank Boccio. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Boccio
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813532
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eines Töpfers ist, wäre es sehr schwierig, der Form, die wir hervorbringen wollen, eine schöne, ausgewogene Gestalt zu verleihen. Wenn wir jetzt an die Form unseres eigenen Lebens und unserer Gesellschaft denken, spüren wir vielleicht, dass Buddha uns auf etwas hinweisen wollte.

      Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass das Leben für viele von uns immer wieder unausgewogen, aus dem Gleichgewicht gekommen und zumindest ein wenig unbefriedigend ist. „Leiden“ ist ein schweres Wort, und vielen von uns mag das Leiden nicht so allumfassend erscheinen. Doch wenn wir Dukkha im ursprünglichen Sinne verstehen, nämlich dass unser Leben nicht ganz im Gleichgewicht ist – dass etwas mit unserer Lebensweise und unseren Beziehungen zu anderen und zu unserer Umwelt nicht ausgewogen ist –, dann werden sicherlich nicht viele widersprechen. Selbstverständlich bezieht sich Dukkha auch auf alles, was wir normalerweise unter Leiden verstehen.

      Dukkha kann uns als körperliches Ungleichgewicht entgegentreten. Alles, von einem leichten Unwohlsein im Magen, nachdem wir etwas gegessen haben, was uns nicht bekommen ist, über starke Zahnschmerzen oder ein gebrochenes Bein, über die unangenehme Kälte einer Winternacht bis zu den verheerenden Auswirkungen von Krebs und Herzkrankheiten ist Dukkha. Dukkha kann auch als geistiges Ungleichgewicht erscheinen, als Depression, Zorn, Einsamkeit oder eine der unzähligen Arten psychischer Schmerzen. Es kann die eindeutige Enttäuschung sein, die wir empfinden, wenn wir etwas nicht bekommen, womit wir gerechnet haben, oder aber wenn wir etwas bekommen, was wir lieber nicht hätten. Es kann aber auch das eher unterschwellige Gefühl einer existenziellen Leere sein, einer Entfremdung oder Angst, wie auch die deutliche Langeweile und Unzufriedenheit, die sich immer dann einstellen, wenn wir uns nicht ablenken.

      In der Praxis des Achtsamkeits-Yoga, die ich später in diesem Buch vorstellen werde, kann Dukkha als Selbstkritik und Beurteilung erscheinen, mit der wir auf unsere Praxis reagieren, wenn wir in der Vorbeuge eigentlich tiefer gehen wollen oder länger im Kopfstand bleiben möchten – so wie die Frau auf der anderen Seite der Übungsraums! Dukkha ist auch die Angst davor, in die Rückbeuge zu gehen, oder der Ärger, wenn wir in einer Haltung das Gleichgewicht verlieren. Die Praxis der asanas ist so wunderbar, weil sie uns diese Herausforderungen stellt, denn in der Praxis der ersten Edlen Wahrheit müssen wir zuallererst erkennen, wo wir leiden – in unserem Körper, in unseren Beziehungen, in unserem Verhalten, in unserem Leben – und wie wir in einer bestimmten Weise leiden. Wenn wir mit dieser Wahrheit arbeiten, beginnen wir bereits, unsere Konditionierungen zu erkennen – die gewohnten Muster unseres Verhaltens und Denkens.

      Buddha zufolge ist Dukkha, das nicht erkannt wird, oder, anders gesagt, unsere Unaufmerksamkeit gegenüber der Existenz von Dukkha ein noch schlimmerer Zustand, ein weitaus schlimmeres Dukkha als Dukkha selbst. Wie jeder gute Arzt müssen wir unser Dukkha identifizieren. Wir müssen wissen, was uns bedrängt und festnagelt. Sobald Dukkha auftaucht, versuchen wir meist, es zu ignorieren, oder aber wir maskieren es durch irgendeine Unterhaltung und Ablenkung oder versuchen, es mit Gewalt wegzudrängen. Auf dem Yoga-Weg erkennen, identifizieren und gestehen wir es uns mit Freundlichkeit und ohne Aggressionen ein. Wir müssen Dukkha anerkennen und würdigen. Immer wieder schämen wir uns, Dukkha zu erfahren – und fügen dem ursprünglichen Dukkha damit weiteres Dukkha hinzu; doch es gibt einen Grund, wieso Buddha von der Edlen Wahrheit des Dukkha sprach. Denn nur durch unser Dukkha, indem wir uns ihm öffnen, können wir beginnen, wirklich zu erwachen. Sobald Dukkha erkannt wird, müssen wir tief in seine wahre Natur schauen und seine Ursachen verstehen. Wenn wir sie verstanden haben, wird Dukkha bereits verwandelt sein.

      Die zweite Edle Wahrheit befasst sich mit dem Entstehen von Dukkha. Eine verbreitete Interpretation der Lehre Buddhas besagt, dass Gier die Ursache von Dukkha sei. Gier steht üblicherweise an erster Stelle der Liste der Bedrängnisse (Pali: kilesas; Skrt.: kleshas), die außerdem Zorn, Angst, Stolz, falsche Ansichten und viele weitere Geisteszustände umfassen. Die zweite Edle Wahrheit ermutigt uns dazu, so klar wie möglich zu erkennen, was die Ursache des Dukkha unserer gelebten Erfahrung ist. In der Lehrrede über die vollkommene Ansicht (Sammaditthi-Sutta) bestärkt Buddha uns darin, unser Dukkha tief zu betrachten und herauszufinden, welche Arten von „Nahrung“ es entstehen lässt und weiterhin nährt.

      Die erste und offensichtlichste Nahrung, die er erwähnt, sind Lebensmittel. Später werde ich etwas über die yogische Ernährungsweise sagen, doch an dieser Stelle mag es genügen, darauf hinzuweisen, dass bestimmte Lebensmittel der Gesundheit des Körpers und der geistigen Zufriedenheit zuträglicher sind als andere; wir müssen wissen, welche dies sind. Die zweite Art von Nahrung setzt sich aus unseren verschiedenen Sinneseindrücken zusammen. Wir nehmen alle Sinneseindrücke durch unsere sechs Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, Zunge, Haut und Geist) auf, und diese Eindrücke stellen die Nahrung unseres Bewusstseins dar. Die dritte Art der Nahrung ist Absicht oder Wille und bildet die Basis all unserer Handlungen. Wir müssen unsere Absichten und unser Wollen betrachten, einschließlich unserer Absicht, Yoga, Meditation oder Achtsamkeit zu praktizieren, damit uns deutlich wird, ob sie uns in Richtung Freiheit und Glück oder in die Richtung von Dukkha führen. Wenn zum Beispiel unsere Motivation in der Praxis der Asanas darin besteht, „der Beste“ zu sein, überanstrengen und verletzen wir uns vielleicht und stärken unseren Stolz und Egoismus.

      Das Bewusstsein ist die vierte Nahrung. Unser Bewusstsein setzt sich aus allen unseren vergangenen Handlungen sowie den vergangenen Handlungen unserer Vorfahren und der Gesellschaft zusammen.

      Unser Bewusstsein erschafft unseren Körper, unseren Geist und unsere Welt. Im Dhammapada heißt es dazu:

      Den Dingen geht der Geist voran; der Geist entscheidet:

      Kommt aus getrübtem Geist dein Wort und dein Betragen,

      so folgt dir Unheil (dukkha), wie dem Zugtier folgt der Wagen.

      Den Dingen geht der Geist voran; der Geist entscheidet:

      Entspringen reinem Geist dein Wort und deine Taten,

      folgt das Glück (sukha) dir nach, unfehlbar wie dein Schatten.

      Die Herausforderung der zweiten Edlen Wahrheit besteht darin, klar zu erkennen, dass unser Dukkha sich nicht wirklich von der Nahrung unterscheidet, die seine Ursache bildet. Wir selbst müssen begreifen – und nicht nur intellektuell verstehen –, dass Freiheit möglich ist, wenn wir einfach nur damit aufhören, die Nahrung zu uns zu nehmen, die die Ursache von Dukkha bildet. Sobald wir Dukkha deutlich erkennen und den Weg, der aus ihm herausführt, wirklich verstehen, entwickeln wir den starken Wunsch, seine Ursachen loszulassen. Wenn wir ganz deutlich begreifen, dass ein bestimmtes Denkmuster, ein Verhalten oder dass gewisse Lebensmittel unser Dukkha verursachen, so wie wir wissen, dass es Schmerzen verursacht, wenn wir ein heißes Schüreisen anfassen, werden wir diese Denkmuster, Verhaltensweisen oder Lebensmittel auf der Stelle loslassen – mit so wenig Bedauern und Konflikt, wie wir sie empfinden würden, wenn wir das heiße Schüreisen fallen ließen.

      Wenn unsere Handlungen von Aufmerksamkeit begleitet werden, sind sie befreiend und kreativ. Sobald wir unachtsam sind, verwickeln wir uns in unsere Konditionierungen und bekannten Verhaltensmuster. Es sind diese konditionierten Handlungsmuster, die uns an den Kreislauf von Dukkha binden. In der Praxis der Asanas können wir anfangen, unsere Muster zu erkennen. Wenn wir tiefer in eine Beuge gehen und die Körperempfindungen intensiver werden – einfach nur, weil sie verschieden von denen sind, die wir kennen –, bemerken wir vielleicht, wie wir unsere Muskeln anspannen, den Atem anhalten und unser Geist sich in Abneigung verengt. Oder wir fangen an zu sehen, wie schnell wir angenehme Empfindungen festhalten, wie wir wollen, dass sie andauern, und wie wir darum ringen, sie zurückzugewinnen, nachdem sie verschwunden sind. All diese konditionierten Verhaltensmuster sind Ursachen von Dukkha, und in unserer Praxis können wir lernen, sie loszulassen.

      Die dritte Edle Wahrheit besagt, dass die Überwindung oder Beendigung von Dukkha tatsächlich möglich ist. Selbstverständlich hilft es uns nicht weiter, dies einfach nur zu glauben. Diese Wahrheit (oder jede der Vier Edlen Wahrheiten) nur als Glaubenssatz anzunehmen, wäre so, als würden wir denken, dass es ausreicht, die Medizin, die der Arzt uns gegeben hat, einfach nur ins Regal zu stellen, anstatt sie auch zu nehmen! Die Herausforderung der dritten Wahrheit besteht darin, dass wir die Befreiung verwirklichen.

      Wenn