Verwirrung entsteht, sobald wir Yoga im engeren Sinne als eine der sechs orthodoxen Traditionen oder Systeme der „Philosophie“ begreifen. Darshana, das Wort aus dem Sanskrit, das ich hier mit „Philosophie“ übersetze, bedeutet eigentlich „direkte Wahrnehmung“ oder „Sicht“. Damit wird deutlich, dass die Betonung in Indien immer auf dem direkten Erfassen der Wirklichkeit lag, im Gegensatz zu einer rein intellektuellen Auseinandersetzung. Als orthodoxe „Standpunkte“ berufen sich diese sechs philosophischen Systeme auf die Autorität der alten vedischen Literatur Indiens.
Wenn wir von Yoga in diesem Sinne als einem der Darshanas sprechen, meinen wir das, was formal als klassischer Yoga bezeichnet wird, den der große Weise Patanjali ungefähr im 2. Jahrhundert u. Z. im Yoga-Sutra dargelegt hat (wobei einige Forscher von einem früheren Zeitpunkt, ungefähr 200 v. u. Z., ausgehen). Der klassische Yoga wird auch als ashtanga (achtgliedriger)-Yoga oder raja(königlicher)-Yoga bezeichnet.
Während die meisten Formen des Yoga (prä- und postklassische) in einem nichtdualistischen Denken verankert sind, ist Patanjalis klassischer Yoga, der mit der dualistischen philosophischen Schule des Samkhya verbunden ist, durchaus dualistisch. Patanjali geht von einer strikten Trennung von Geist (purusha) und Natur oder Materie (prakriti) aus. In seinem System werden unzählige Purushas angenommen, wobei es in den Lehren und Praktiken, die sich im Yoga-Sutra finden, darum geht, dass die Praktizierenden eine Einsicht (viveka) entwickeln, in der sie zwischen dem transzendenten Purusha und allem, was „Nicht-Selbst“ (anatman) ist, unterscheiden; Letzteres umfasst auch den gesamten psychophysischen Organismus, der dem Bereich des Prakriti zugerechnet wird. (Es sollte bedacht werden, dass Patanjali Anatman etwas anders versteht, als er in buddhistischen Texten aufgefasst wird.)
Ironischerweise wird Yoga in dieser Vorstellung zu einer Abtrennung und einem Rückzug von der phänomenalen oder relativen Wirklichkeit, bis die Yogini ihr wahres Selbst wiederentdeckt. Tatsächlich behaupten einige Kommentare zum Yoga-Sutra, dass Yoga „viyoga“ sei, also: „Einheit ist Trennung“ – was fälschlicherweise wie ein Zen-Koan klingt!
Ob wir uns nun dazu entscheiden, der Metaphysik Patanjalis zu folgen oder nicht, der Prozess der Einsicht, Viveka, spielt selbst in nichtdualistischen philosophischen Schulen des Yoga, Vedanta und Buddhismus eine Rolle. Deshalb kann es auch für nichtdualistische Buddhisten durchaus von Gewinn sein, sich mit Patanjalis dualistischem Yoga-Sutra zu beschäftigen. Außerdem sind viele Praktizierende der vedantischen und tantrischen Tradition der Ansicht, Patanjali habe eher ein Modell für die Praxis und Lehre vorgelegt als eine eigenständige Ontologie.
Durchlässige Interpretationen und die Akzeptanz von Widersprüchen und Paradoxien sind Eigenschaften, die alle Yogalehren auszeichnen.
Nach allem, was hier gesagt wurde, fragen Sie sich vielleicht, wie die Haltungen in dieses Bild passen. Wie ich bereits erwähnt habe, spielten die Haltungen, die wir heute kennen und praktizieren, im Lauf der Geschichte keine so große bis gar keine Rolle. Selbst im Yoga-Sutra beziehen sich nur drei der 195 Aphorismen auf die Asanas, die Patanjali als „stabil und angenehm“ charakterisiert. Sie werden in einem „entspannten Bemühen“ praktiziert und führen zu einer „Befreiung von Gegensätzen“ wie Hitze und Kälte, Lust und Schmerz.
In diesem und anderen frühen Texten wird deutlich, dass die Asanas, um die es dort geht, die Haltungen der Sitzmeditation sind. Für Patanjali sind die Asanas ein Hilfsmittel, das den Rückzug der Sinne unterstützt und zu einer tiefen Konzentration führt, die in der Meditation gipfelt. Tatsächlich bedeutet das Wort „Asana“ wörtlich „Sitz“ und bezeichnete ursprünglich den Platz, auf dem der Yogi sich niederließ. Wenn Sie sich in Meditation setzen, praktizieren Sie also im buchstäblichen Sinne Yoga!
Mit der Zeit entwickelte sich unter dem Einfluss tantrischer Lehren – die den Körper eher als ein Werkzeug der Befreiung und nicht mehr nur als Hindernis auf dem Weg zum Erwachen betrachteten – eine Form des Yoga, die das Arbeiten mit dem Körper betonte, der als Grundlage der Selbsterkenntnis perfektioniert werden sollte. Dieser hatha-Yoga (wörtlich: „kraftvoller Yoga“, da er Disziplin und eine dynamische Qualität der Praxis betont und daran interessiert ist, kundalini-shakti zu erwecken, die göttlich-weibliche Lebenskraft, die eingerollt an der Basis der Wirbelsäule ruhen soll) entwickelte die unzähligen Haltungen, die im Westen so populär geworden sind.
Doch von Anfang an hat es Weise gegeben, die vor einer Überbetonung der Haltungen auf Kosten der Meditation gewarnt haben, da dies zu einer noch stärkeren Identifikation mit dem physischen Körper und der Entwicklung von maßlosem Stolz, Eifersucht und Frustration führen könnte. Leider veranlasste diese Tendenz, die Praxis der Asanas – bereits bevor sie in den Westen kam – zu übertreiben, einige Weise, davor zu warnen, dass „die Techniken der Haltung für den Yoga nicht förderlich sind. Obwohl sie als wesentlich beschrieben werden, hemmen sie das eigene Fortschreiten“, wie es ein Zitat aus dem Garuda-Purana, einem Text aus dem 10. Jahrhundert u. Z., dessen Autor unbekannt ist, formuliert.
Heutzutage wird der Yoga in Amerika und anderen westlichen Ländern nur allzu oft auf die Asanas reduziert. In den meisten Yoga-Klassen, die Sie besuchen, werden Sie nur wenig oder gar keine Meditation finden, ganz zu schweigen von einer Diskussion des Kontextes, in den die Praxis der Asanas eingebettet ist. Als ich mit dem Studium des Yoga begann, gab es keine wirkliche Meditationsunterweisung. Obwohl die Asanas angeblich eine Vorbereitung auf die Meditation sein sollten, schienen wir nie zum Meditieren zu kommen.
Wie Buddha lehrte, sollten wir in jeder der vier Positionen oder „Haltungen“, die alle Aktivitäten des Lebens repräsentieren – Sitzen, Stehen, Gehen und Liegen – meditative Aufmerksamkeit entwickeln. Das können wir auch, wenn wir allem, was wir tun, und allem, was auftaucht, achtsam begegnen. Dann leben wir im „ewigen Jetzt“ und halten „unsere Verabredung mit dem Leben“ ein, wie Thich Nhat Hanh es sagt, die immer im gegenwärtigen Moment stattfindet.
Buddhas ausführliche Unterweisungen zur Achtsamkeits-Meditation finden sich in zwei wichtigen Lehrreden, im Anapanasati-Sutta (Sutra des Bewussten Atmens) und im Satipatthana-Sutta (Sutra der Vier Verankerungen der Achtsamkeit). Im sechsten Kapitel, „Eine Einführung in die Sutras“, werde ich diese vorstellen und aufzeigen, wie sie sich gegenseitig ergänzen. Es wird darum gehen, wie wir durch spezielle Übungen, die Buddha lehrt, die Asanas als Achtsamkeits-Meditation praktizieren können.
Wenn wir uns in dieser Weise, wie es im dritten Teil beschrieben wird, mit den Yoga-Asanas beschäftigen, können wir Einsichten erlangen, die uns verwandeln und heilen und uns sogar von vielen unserer begrenzenden und zerstörerischen Denk- und Verhaltensmuster befreien. Buddha versichert uns, dass die Übung des bewussten Atmens uns mit Erfolg die Vier Verankerungen der Achtsamkeit praktizieren lässt. Diese wiederum, wenn sie beständig entfaltet und geübt werden, lassen uns in den Sieben Faktoren des Erwachens verweilen, die zu tiefer Einsicht und vollständiger Befreiung des Geistes führen.
Aber nehmen Sie mich (oder ihn) nicht beim Wort. Praktizieren Sie, und finden Sie es selbst heraus!
Intermezzo
Die Wurzeln des Yoga finden sich bereits in den Veden, den ältesten indischen Überlieferungen, die von gläubigen Hindus als offenbarte Schriften betrachtet werden. Die Veden, die bis in das 4. Jahrtausend v. u. Z. zurückreichen, werden als ewig, ungeschaffen und unanfechtbar angesehen – auch wenn sie Gegenstand vielfältiger Interpretationen sind. Seit seinen frühesten Anfängen ist es schon immer das Ziel des Yoga gewesen, eine Praxis der disziplinierten Introspektion oder meditativen Betrachtung zu entwickeln, die auf eine Transzendierung des egozentrischen Selbst ausgerichtet ist. Anfangs bestanden diese meditativen Praktiken hauptsächlich im Abhalten von Opferritualen. Mit dem Entstehen der Upanischaden und einer upanischadischen Yoga-Praxis, die sich über mehrere Jahrhunderte entwickelte, richteten sich die meditativen Praktiken immer stärker nach Innen, und das Opfer verwandelte