8 Schenkungsurkunde vom 4. Mai 1019, Fälschung des 11. Jahrhunderts
Für die Zuwendung vom 22. April 1019 lässt sich dieses eigenmächtige Vorgehen noch besser nachvollziehen, da sowohl die ‚Abschrift‘ (Abb. 8) als auch ein Fragment des Originals (Abb. 9) erhalten sind.53 Die Stiftsdamen oder Nonnen ließen in diesem Fall ganz unauffällig Rechte im Kaufunger Wald, die eigentlich zum Kasseler Königsgut gehört hatten und deshalb nach Kunigundes Ableben an den König zurückgefallen waren, in den Text einfügen. Dabei muss der uns namentlich nicht bekannte Schreiber das Siegel vom Original abgetrennt und dem neuen Exemplar angehängt haben, um die Echtheit der gefälschten Urkunde zu beglaubigen.
9 Fragment der originalen Schenkungsurkunde vom 4. Mai 1019
Der Beweggrund für solches Handeln ist im Wunsch der Nonnen oder Stiftsdamen zu suchen, ihre tradierten Rechte zu schützen und den ihnen zugesprochenen Besitz weiter zu arrondieren. Denn spätestens im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts änderte sich ihre Situation grundlegend: Während der erste salische König Konrad II. sich nicht weiter um den Königshof gekümmert hatte und sein Nachfolger Heinrich III., der zwischen 1042 und 1051 mindestens dreimal in Kaufungen weilte,54 die Kaufunger Gemeinschaft noch gefördert und vor allem 1041 mit einem Wochen- und einem Jahrmarkt begünstigt hatte, übereignete dessen Sohn Heinrich IV. das Kloster oder Stift 1086 an Bischof Huzmann von Speyer, einen seiner politischen Verbündeten.55 Er entließ es damit aus dem Reichsbesitz, zweifellos gegen den Willen der Benediktinerinnen oder Stiftsfrauen, die sich gegen die Verschlechterung ihres Status heftig zur Wehr setzten.
Die machtbewussten Frauen, nicht zimperlich bei der Rechtfertigung ihrer Ambitionen, fälschten wiederum eine gleichfalls auf den 22. April 1019 rückdatierte Urkunde.56 Die Neufassung enthielt gewichtige Vorrechte wie die Reichsunmittelbarkeit, die ausschließlich königliche Vogtei und die freie Wahl der Äbtissin. Nicht zuletzt ergänzte man die Zuständigkeit des Mainzer Erzbischofs für geistliche Aufgaben. Die Nonnen oder Stiftsdamen suggerierten damit, dass sie in weltlichen Angelegenheiten allein dem König, in geistlichen ausschließlich Mainz unterstellt wären. Ihre Interpolationen richteten sich eindeutig gegen das Bistum Speyer, aus dessen Einflussbereich sie sich, wie schon die Zeitgenossen bezeugen, so weit wie möglich zurückzuziehen versuchten.57 Aber erst 1226, also 140 Jahre später unter Kaiser Friedrich II., schafften sie es, die Speyrer Obrigkeit abzuschütteln und ihren reichsunmittelbaren Status zurückzuerlangen.
Den Kaufunger Wald, das Jagdgebiet der Könige, vergab Heinrich IV. zu Lehen, vermutlich an die hessischen Grafen Werner, die neuen Inhaber der Stiftsvogtei. Erst nach deren Aussterben 1121 gelang es dem Stift, zumindest Teile dieses Besitzes wieder an sich zu bringen.58 Dies betraf vor allem das Dorf Heiligenrode, das – wie Wickenrode, Helsa, Eschenstruth, †Lobesrode und Wellerode – zu den zahlreichen Rodungssiedlungen des Stifts gehörte, sowie das Nachbardorf †Umbach.59 Ebenfalls nach 1121, als die Schauenburger Grafen die Stiftsvogtei übernommen hatten, könnte ein weiterer Besitzkomplex ganz neu an das Stift gelangt sein, der das ganze Dorf Niederzwehren mit Zehnt- und Patronatrechten sowie weitere Rechte in Bergshausen und vermutlich in †Waleshausen (zwischen Nieder-, Oberzwehren und Wehlheiden) umfasste. Einiges spricht dafür, dass es sich um einen eigentlich für das Kloster Breitenau bestimmten Teil des Wernerschen Erbes handelte, den der Mainzer Erzbischof 1123 an Vasallen wie die Schauenburger Grafen und an geistliche Einrichtungen weitervergab.60
Es war eine Zeit, in der das Mainzer Erzbistum Klöster und Stifte sowie deren Vogteien zunehmend als Instrument seiner weltlichen Territorialpolitik nutzte.61 Gerade Niederzwehren hatte große strategische Bedeutung, da man dort sowohl eine wichtige Fuldafurt als auch den großen Nord-Süd-Fernweg, der durch Kassel führte, kontrollieren konnte. In der territorialen Konkurrenz mit den Ludowingern, die 1137 die Grafschaft Hessen sowie Kassel als Reichslehen übernahmen, bildete deshalb der Besitz der Schauenburger samt ihrem Kaufunger Vogtamt einen wichtigen Mainzer Stützpunkt.62
Generell ist zu sagen, dass sich die Kaufunger Besitzungen im hohen Mittelalter um ein Vielfaches vermehrten und die Neuerwerbungen sich verstärkt auf einen Umkreis von weniger als 50 km um Kaufungen und Kassel konzentrierten. Die beiliegende Karte vermittelt einen groben Überblick über den hoch- und spätmittelalterlichen Gesamtbesitz (Abb. 10). Einzelne dieser Güter gerade in wenig geschlossenen Lagen waren immer wieder zu verteidigen, sei es in Prozessen gegen konkurrierende Klöster und kirchliche Institutionen, in Konflikten mit den Landgrafen von Thüringen und anderen weltlichen Herren oder im Kampf gegen Ersitzung und Usurpation.
Spätestens 1132 lässt sich die Gründung als Kanonissenstift greifen, dem drei Geistliche angegliedert waren.63 Für die vorausgehenden Jahrzehnte ist der religiöse Charakter der Stiftung schwer zu bestimmen, weil der Begriff monasterium sowohl ein Kloster als auch ein Stift mit Klausur benennen konnte. Selbst nach 1132 scheint die Terminologie nicht präzise geregelt gewesen zu sein, denn nicht nur Außenstehende, sondern auch die Kanonissen (dominae) und einfachen Schwestern (sorores) bezeichneten das Stift tatsächlich weiterhin noch vereinzelt als monasterium.64 Nicht einmal die Befolgung der Benediktsregel, die Heinrich II. den ersten Schenkungsurkunden zufolge vorgesehen hatte, bietet einen sicheren Anhaltspunkt,65 zumal diese Spezifizierung in der letzten Urkunde der Serie von 1023 bereits fehlt.
In der Regel waren ottonische Gründungen des 10. Jahrhunderts in Königshöfen freilich entweder Männerklöster (wie Pöhlde) oder Damenstifte (wie Quedlinburg und Eschwege), denn angesichts der Königsaufenthalte wäre eine strenge Klausur an handfeste Grenzen gestoßen.66 Es bleibt also eine Mutmaßung, dass Kunigunde der Benediktsregel einen außergewöhnlichen Wert beigemessen und sie zeitlebens so stark gestützt habe, dass es den Nonnen erst nach ihrem Tode möglich war, die Verfassung zu wechseln.
Ein Zusatz in der ältesten, noch von Thietmar selbst begonnenen Fassung seiner Chronik, die mehrere Schreiber in den Jahren 1090 bis 1150 sukzessiv ergänzten, berichtet, dass Kaufungen für Kanonissen errichtet worden sei.67 Verantwortlich für diese Überlieferung zeichnet ein Schreiber, der zur Zeit Lothars von Supplinburg (1125– 1137) arbeitete, so dass seine Bemerkungen nicht in die um 1120 entstandene Corveyer Überarbeitung einflossen. Es ist nicht mehr zu eruieren, ob die mehr als hundert Jahre nach der Gründung getroffene Aussage einfach die Situation um 1130 widerspiegelt oder tatsächlich zurück auf den Gründungsvorgang übertragbar ist.
In der Verbindung mit dem Königshof und der Pfalzkirche wäre auch an eine Mischform von gemäßigten Benediktinerinnen und Stiftsdamen zu denken, bei der die Frauen die Klausur nicht strikt befolgten und sogar eigene Dienerinnen beschäftigten. Fraglos hätte ein Stift die Bedürfnisse der dort versorgten Töchter adliger Herkunft, die noch nicht wie später in Einzelkurien untergebracht waren, sowie des reisenden Königshofes von Anfang an eher befriedigt als ein Benediktinerinnenkloster mit Klausur.68 Letztlich muss die genaue Form der kaiserlichen Gründung offen bleiben.
In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts scheint sich das Stift konsolidiert zu haben. Einzelne Kanoniker sind sogar namentlich bekannt, so etwa 1167 die Priester Widoldus und Reimboldus. Die erste Kanonikerin (canonica) ist erst 1227 urkundlich belegt.69 Des Weiteren lassen sich Modernisierungen an der Stiftskirche wie die Einwölbung des Chorjochs fassen, die dem Lippoldsberger Vorbild folgten.70 Zudem baute man an den dominanten Westturm statt eines runden Treppenturms den sechseckigen Archivturm an,71 der vermutlich eine wichtige Reliquie des Stifts, das angebliche Banner des heiligen Mauritius, samt weiteren wertvollen Objekten diebstahl- und feuersicher verwahrte.72
10 Karte zum Kaufunger Gesamtbesitz mit Besitzverzeichnis
In den Jahrzehnten