11 Gotischer Kamin mit Wappen der Äbtissin Elisabeth von Waldeck und Datierung, Kaufungen Herrenhaus in der Eingangshalle, 1463
Die umfassenden Baumaßnahmen an der Kirche waren erst abgeschlossen, als auch der neue Chorschluss vollendet war.102 An einem Strebepfeiler ist die Datierung 1469 angebracht, also das Jahr, in dem Mauern und Dach ihrer Fertigstellung entgegensahen. Unbekannt ist nur, ob damals bereits das Gewölbe eingezogen und das Chorjoch neu eingewölbt war. Aus dem Jahr 1473 datieren zwei weitere Indulgenzbriefe zugunsten des Kirchenbaus und der Ausstattung einschließlich Beleuchtung, Büchern und Kelchen.103 In gleicher Weise wurden damals auch Benedikts- und Nikolauskapelle gefördert.104 Dass man überhaupt den Chor erneuerte und mit dem Gewölbe des Chorjochs an die 1462 vollendete Kasseler Martinskirche anknüpfte, verdeutlicht, dass sich die finanziellen Möglichkeiten des Stifts verbessert hatten und man für den liturgisch wichtigsten Bauteil den Anschluss an moderne Bauprojekte suchte.105
In diesem Zusammenhang müssen spätestens unter Äbtissin Agnes von Anhalt (1495–1504), die gleichzeitig das zur Bursfelder Kongregation gehörige Stift Gandersheim leitete, auch die mittelalterlichen Glasfenster gefertigt worden sein, durch die bis zum Bildersturm unter Landgraf Moritz und vereinzelt bis zu den Renovierungsarbeiten von 1874 das Licht in den Chor fiel. Vier Reste der wunderbaren, farbenprächtigen Glasmalereien sind erhalten; sie porträtieren Kaiser Heinrich II. (Abb. 12) und Kaiserin Kunigunde (Abb. 13), Benedikt von Nursia (Abb. 14) und seine Zwillingsschwester Scholastika (Abb. 15). Dieses Bildprogramm veranschaulicht, dass im ausgehenden 15. Jahrhundert die Erinnerung an die Stifter und deren monastische Zielsetzungen noch sehr lebendig war. Allerdings stammen die vier Medaillons nicht zwingend aus demselben Kontext: Die des Kaiserpaars, die offenbar aus den rechteckigen Feldern der Chorfenster kommen, sind größer und wohl erst nachträglich in Form geschnitten, während die kleineren Rundformate von Benedikt und Scholastika einschließlich ihres Rahmens original sind und in das Couronnement der beiden Diagonalseitenfenster passen dürften.106
12 und 13 Glasfenster mit Kaiser Heinrich II. und Kaiserin Kunigunde, Kaufungen Herrenhaus im Rittersaal, Ende 15. Jh.
14 und 15 Glasfenster mit Benedikt von Nursia und seiner Zwillingsschwester Scholastika, Kaufungen Herrenhaus im Rittersaal, Ende 15. Jh.
Das Stiftsleben im Spätmittelalter
Zwischen 1413 und 1432 ließ die Kaufunger Pröpstin Johanetta vom Stein, die damals nach eigenen Angaben bereits 40 Jahre im Stift weilte, das tradierte Gewohnheitsrecht und alle Gebräuche schriftlich fixieren. Diese Statuten, die für die Stiftskanoniker gedacht waren, umfassten Regelungen zum Stiftsleben und zur Besitzverwaltung, insbesondere aber zu den Pflichten der Kanoniker und zum Ablauf der verschiedenen Gottesdienste während des Kirchenjahres einschließlich der jeweiligen Gesänge.107 Aus den Statuten erfahren wir ferner, wie die Ämterstruktur im Stift angelegt war, wie die Äbtissinnenwahl und die Ausbildung der Stiftsdamen erfolgte und wie die Nahrungsversorgung der Stiftsgemeinschaft funktionierte. Sie regelten also einerseits die Aufgaben der dort beschäftigten Kanoniker und beschrieben andererseits das Leben der Stiftsdamen, deren Zahl – 1378 waren es fünf, 1388 und 1390 nur zwei, 1397 sechs – übersichtlich war und leicht schwankte.108
Sechs Kanoniker, bezeichnet als Hebdomedare, übernahmen im Wechsel jeweils für eine Woche das Zelebrieren der Messe am Kreuzaltar der Stiftskirche sowie weitere Memorialgottesdienste und Andachten, wobei die Teilnahme an der täglichen Hochmesse für das gesamte Stiftspersonal verpflichtend war. Der Diensthabende hatte zusammen mit Ministranten, Vikaren und Priestern fernerhin die acht Seitenaltäre und die drei Kapellen am Kreuzgang zu bespielen: die Altäre des Hl. Heinrich und von St. Peter und Paul (genannt das Grebelin), der Heiligen Dreifaltigkeit und der fünf Heiligen Wunden Gottes, den Marien-, Kunigunden-, Margareten- und Stephansaltar sowie die Kapellen von Benedikt, Nikolaus und Georg. Ihre Präbenden erhielten die Kanoniker aus jeweils eigenen Zuordnungen, denn nur einer konnte Rektor des Kreuzaltars sein. Die anderen dienten als Kaplan oder Rektor der Benediktskapelle sowie jeweils als Rektor oder Pfarrer (plebanus) der Pfarrkirche St. Agathe in (Nieder-)Zwehren, von St. Bonifatius in Meimbressen, der Pfarrkirche St. Johannes in Wolfsanger und der Pfarrei St. Stephan in Kaufungen.109
Die Kanoniker lebten, durchaus mit Frau und Kindern, in der Freiheit, dem Pfarrbezirk mit eigener Gerichtsbarkeit neben dem Stift, wo auch die eigenen Häuser der Stiftsdamen anzunehmen sind.110 Vermutlich versahen diese Geistlichen noch weitere Präbenden. Der Stiftskanoniker Mathias Jude, der 1407 erstmals als Pfarrer von Meimbressen erwähnt wird, war spätestens seit 1418 Probst des Klosters Weißenstein in Kassel und bis zu seinem Tod um 1449 Besitzer eines Hauses in Kaufungen, in dem er mit Tochter und Enkelkindern wohnte.111 Solche Lebensentwürfe scheinen nicht ungewöhnlich gewesen zu sein und lassen uns den Alltag erahnen.
Die Stiftsdamen unterstanden der Äbtissin, die, aus ihrer Mitte gewählt, für die Aufsicht und das Wohlergehen aller Stiftsangehörigen zuständig war. Außer dem Äbtissinnenamt waren die Positionen der Pröpstin, der Küsterin und der Kaplanin sowie die Sonderstellung der jüngsten Stiftsdame zu vergeben. Jede der fünf konnte jeweils einen Altar vergeben, in der Reihenfolge der Nennung St. Peter und Paul und des Hl. Heinrich, des Nikolaus und Mariens sowie der Heiligen Dreifaltigkeit.112 Das Stiftskapitel, in dem die Kanoniker mit beratender Stimme vertreten waren, war für die Wahl der Äbtissin, des Vogts und der Amtmänner zuständig; es kontrollierte die Güterverwaltung, die Vergabe der Altarpräbenden sowie die Neuaufnahme von Stiftsdamen, deren Präbenden dabei festzulegen waren. Die Kanoniker übernahmen den geistlichen Part nach der Äbtissinnenwahl und deren Bestätigung seitens des zuständigen Bischofs, also die Abnahme des Amtseides und die Einsetzung, bei der sie die Gewählte buchstäblich auf den Hauptaltar setzten.113
Die meisten Aufgaben oblagen naturgemäß der Äbtissin. Sie verwaltete zusammen mit einem Amtmann und einem eigenen Kaplan (cappellanus abbatissae) die Güter, tätigte Käufe und Verkäufe, kontrollierte die Einkünfte und Einnahmen aus der gesamten Grundherrschaft, verantwortete die Ausgabe der Präbenden und aller Zahlungen, bewirtete die Gäste und lud in einer kurzen Ansprache an hohen Feiertagen Stiftsdamen und Kanoniker zur Kommunion am Altar ein.114 Über den Kaufunger Stiftshof und seine Erträge konnte sie fast allein verfügen. Trotz dieser Machtfülle war sie offenbar nicht gezwungen, Ehelosigkeit zu schwören, so dass sie, wie alle Stiftsdamen, jederzeit hätte austreten können.
Die Pröpstin, der ein eigenes Propsteigut zustand, war ihre Stellvertreterin im Falle der Abwesenheit. Sie hatte die Schlüsselgewalt für Stiftsdokumente wie Kreuzgang und war gleichsam die Sprecherin und Vertrauensperson der weiteren Stiftsdamen.115 Die Dritte in der Rangfolge, die Küsterin, trug die Verantwortung für alles, was mit der Stiftskirche zu tun hatte: für deren Innenräume und den Chor samt Zugang und Ausstattung, für die Reliquien und die Glocken. Deshalb war sie auch an der Auswahl des Glöckners, der ein Kleriker sein musste, beteiligt.116 Vermutlich verwaltete sie ein eigenes Küstereigut. Ihr unterstand die Fertigung der Wachskerzen, für deren Rohmaterial zumindest zum Osterfest die Äbtissin zeichnete; sie trug die Sorge für die Grund- und Festbeleuchtung.117 Deutlich dahinter zurück stand die Kaplanin oder Pförtnerin, die den Schlüssel zur Stiftspforte verwahrte und dafür, ebenso wie alle anderen Amtsinhaberinnen und Stiftsfrauen, Einkünfte (fructus, redditus, proventus, pensiones et obventiones) in gesonderter Höhe erhielt.118
Letztlich hatte fast jede der adeligen Frauen bestimmte