Besitzkomplex, Bauten und Stiftsentwicklung im Hochmittelalter
Auch in den Folgejahren bis zum Tod Heinrichs im Juli 1024 unterstützte das Herrscherpaar den Ausbau der Örtlichkeiten mit großer Zielstrebigkeit, vereinzelt vor Ort und bis 1023 mit einem Gesamtprogramm von insgesamt zehn Privilegierungen.40 Diversifizierte Güterübertragungen sollten die wirtschaftliche Eigenständigkeit der sich langsam etablierenden Nonnen- oder Kanonissengemeinschaft gewährleisten. Treibende Kraft scheint die als Gründerin bezeichnete Kaiserin gewesen zu sein, die in der Region über das Erbgut Herleshausen (Herleicheshuson) verfügte und bereit war, diesen Eigenbesitz für ihr Unternehmen einzusetzen. 1019 ging das an der Durchgangsstraße nach Thüringen zwischen den Werra-Furten von Vacha und Creuzburg gelegene Gut samt einem Dorf und zugehörigen Grundstücken an Kaufungen über, von dem es, ungefähr 60 km entfernt, in zwei bis drei Tagesreisen zu erreichen war.41 Dieser Hof in einem politisch vielfach umstrittenen Grenzgebiet blieb der klösterlichen Gemeinschaft, die sich in verschiedenen Auseinandersetzungen und Prozessen behaupten musste, bis zur Säkularisation erhalten.
3 Karte zum Kaufunger Gründungsbesitz mit Besitzverzeichnis
Einen entscheidenden Schritt vollzog der Kaiser, als er dem Stift oder Kloster in mindestens sechs, wahrscheinlich sogar sieben weiteren Diplomen der Jahre 1019 und 1023 Königsgut in Nordhessen und anderen Reichsteilen übereignete:42 Zum einen wurde die örtliche Villikation eingerichtet und dem Stift als Eigentum übertragen,43 zum anderen kamen ansehnliche Bestände aus dem Königsgut vor allem an Mosel und Ruhr hinzu.44 Diese Gebietsüberschreibungen waren regional und nutzungstechnisch breit gefächert; im Zusammenwirken entfalteten sie ihre volle Kraft. Die beiliegende Karte veranschaulicht die räumliche Verteilung dieses Gründungsbesitzes (Abb. 3).
Sechs Komplexe im Moselgebiet westlich von Koblenz sollten eine ausreichende Weinzufuhr sicherstellen und insbesondere den unentbehrlichen Messwein liefern. Allerdings war dieser Fernbesitz weit vom Kerngebiet entfernt und dadurch nicht leicht zu verwalten. Die rechtlichen Ansprüche mussten später immer wieder von neuem geltend gemacht werden. Von noch größerer Bedeutung war das stattliche Gut Herbede, das von einem für den Handel wichtigen Übergang über die Ruhr profitierte, der gegen Mitte des 14. Jahrhunderts mit einer Brücke ausgerüstet wurde. Mitten in fruchtbarem Ackerboden gelegen, umfasste es im 13. Jahrhundert immerhin 56 Eigen- und drei Pachthöfe. Für Kaufungen war es ein enormer Zugewinn.
Weniger aufwendig war der Zugriff auf die Besitzungen in der näheren Umgebung, darunter natürlich der Oberkaufunger Wirtschaftshof, aus dem die religiöse Institution hervorgegangen war, und mehrere andere Höfe wie Niederkaufungen, Vollmarshausen und Uschlag.45 Mit diesen Übertragungen hatte sich der östlichste Teil des Kasseler Königsguts als selbständiger Kaufunger Wirtschaftsbezirk, als eine eigene sog. Villikation, etabliert. Dieses Paket ergänzten verschiedene Marktrechte in der Region:46 Dazu gehörte vor allem das Recht, vor Ort in Oberkaufungen einen Jahrmarkt abzuhalten, um die Ost-West-Handelswege nach Thüringen zu nutzen. Zudem erhielt das Stift die Kirche im nicht weit entfernten Wolfsanger, verbunden mit dem Recht, dort sowohl einen Wochen- als auch einen Jahrmarkt einzuführen. Damit konnten die Nonnen oder Stiftsdamen auch von der bedeutenderen Nord-Süd-Strecke profitieren, welche bei Wolfsanger die Fulda überquerte. Die verschiedenen Übertragungen bestärken die Annahme, dass das Stift oder Benediktinerinnenkloster anfangs nur Teile der Kasseler Villikation, also des dortigen grundherrschaftlichen Komplexes, erhalten hatte und nicht, wie oft behauptet, das gesamte Kasseler Königsgut.
Als letzte Schenkung fiel 1023 das Gut Heringhausen (Hardinghuson) an der Diemel im Ittergau an die Neugründung,47 der es trotz der nicht geringen Entfernung von über 100 km bis zu ihrer Auflösung dauerhaft verbunden blieb. Zumindest konnten die anfallenden Abgaben aus Rechten und Besitz mit großer Regelmäßigkeit eingezogen werden. Damit waren die kaiserlichen Bemühungen um eine angemessene Grundausstattung abgeschlossen.
4 Stiftskirche Kaufungen, Rekonstruktion
Mit Heinrichs Tod am 13. Juli 1024 erlangte Kunigunde die alleinige Verfügungsgewalt über ihr Witwengut in Kassel, im nördlich davon an der Ahna gelegenen Mühlhausen und im östlichen Kasseler Becken, also diejenigen Besitzungen, die nicht wie die Ferngüter und die Kaufunger Grundausstattung vom Königsgut direkt an die religiöse Institution geflossen waren. Bereits am ersten Todestag trat die Witwe als Nonne oder Stiftsdame in das Kaufunger Stift oder Kloster ein. Zugleich ließ sie die Kirche Zum Heiligen Kreuz, den bedeutendsten Bau der dortigen Anlage, hier in einer Rekonstruktion von Hans Feldtkeller (Abb. 4),48 feierlich weihen und mit Kostbarkeiten ausstatten. Dieser Erbauungsphase der Stiftskirche bis 1025 ordnet die Forschung auch den auf karolingische Vorbilder wie Corvey zurückgehenden Westturm zu, dessen Grundriss in beiliegender Skizze recht gut zu erkennen ist (Abb. 5).49 Die Westempore (Abb. 6), wegen ihrer Bestimmung auch Kaiserempore genannt, soll das Modell für den Breitenauer Klosterbau geliefert haben.50
5 Stiftskirche Kaufungen, Grundrisse des Westturms: a Erdgeschoss, b Emporengeschoss
6 Stiftskirche Kaufungen, Blick auf die Westempore, vermutlich aus der Erbauungszeit
7 Rekonstruktion der Kaiserpfalz und ihrer Umgebung in Kaufungen
Spätestens zu diesem Zeitpunkt müssen steinerne Wohnbauten sowohl des Klosterkonvents oder Stifts als auch der Kaiserpfalz den Kirchberg geprägt haben, wie die beiliegende Rekonstruktion zeigt (Abb. 7). Der so genannte Salhof mit den Wirtschaftsgebäuden dürfte, Klaus Sippel zufolge,51 zunächst womöglich tiefer am Dautenbach gelegen haben, ehe auch er auf den Kirchberg transferiert wurde. Unsicher bleibt jedoch, welche Rückschlüsse aus dem Dorfgrundriss gezogen werden dürfen und welche Baulichkeiten bereits vor 1008 in der vermuteten Wallburg anzunehmen sind.
Anlässlich der Kirchweihe dürfte Kunigunde überdies entschieden haben, alle Erträge aus dem Kasseler Wirtschaftshof an die Kloster- oder Stiftsverwaltung fließen zu lassen. Diese Einkünfte versiegten erst, als die Besitzungen nach Kunigundes Ableben am 3. März 1033 wieder an den König zurückfielen.
In der Folge scheint das Kloster oder Stift nachträglich versucht zu haben, wenigstens Teile des Kasseler Königsguts und weitere Privilegien durch Urkundenfälschung dauerhaft an sich zu ziehen. Dazu ließ man vorhandene alte Diplome Heinrichs II. erneut ausstellen und beim Kopieren durch einen Einschub zu einer umfassenderen Berechtigung ausweiten. Einen ersten Ansatzpunkt für eine solche Interpolation bot die Schenkung des Kasseler Königshofes vom 24. Mai 1008, die an Kunigunde persönlich gegangen war.52 Die Nonnen oder