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Sizilien war kalt, die Vögel froren. Zogen die Wolken fort, brannte die Sonne; schoben sich Wolken vor die Sonne, fröstelten sie. Nach drei Tagen hatten alle einen Sonnenbrand, die Kinder husteten und die Erwachsenen schnieften. So hatten sie sich das nicht vorgestellt, ihre Osterferien im Süden. Mittags tranken sie Weißwein und abends Rotwein. So halten wir die Bakterien in Schach, sagte Ludwig. Ludwig musste es wissen, er war schließlich Arzt. Allerdings war es Eva, die kleine braune Flaschen mit weißen Kügelchen aus ihrer homöopathischen Reiseapotheke nahm, sie auf dem Tisch in einer Reihe aufstellte und ihre Notizen in einem vollgekritzelten Heft mit den Symptomen der Kinder verglich.
„Ärger bei kaltem Ostwind“, murmelte sie. „Aconitum. Ist der Schleim dick und gelb?“, fragte sie Jennifer.
„Hast du Durst oder eher nicht?“, fragte sie David.
Und die Kinder nickten und schüttelten den Kopf, widersprachen sich in ihren Angaben und ließen die Kügelchen in ihren kleinen Mündern zergehen.
„Kann ich auch ein leckeres Placebo haben?“, fragte Ludwig und biss sich auf die Lippen.
„Los jetzt“, sagte Stefan, „wir gehen vor dem Essen noch mal raus!“
Und alle Kinder zogen Schuhe und Jacken an und rannten ihm hinterher.
„Ich lege mich mal hin, wenn ihr nichts dagegen habt“, sagte Sibylle und verzog sich.
Ludwig hatte das Kochen übernommen. Er packte alles auf die bunte Tischdecke, Salat, Tomaten, eingelegte Paprika, Spaghetti, Hackfleisch. Eva kämpfte mit dem Heizofen und den Tränen. Sie zog die Nase hoch und versuchte an ihre Großmutter zu denken, die so tapfer gewesen war und fünf Kinder allein großgezogen hatte und es von der Hemdenwäscherin zur Reinigungsinhaberin gebracht hatte.
Ludwig beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er spürte die Spannung, die von ihrem Rücken ausging, und verstand selbst nicht, was ihn an Eva so aufbrachte. Es musste seine Angewohnheit sein, sich zu behaupten; er musste jeden Tag beweisen, dass er sich durchsetzen konnte. Eva erinnerte ihn an die Zeiten, als er das lockige Haar bis über die Schultern trug und in der dicken Lederjacke mit seinem schweren Motorrad zur Uni und später zum Krankenhaus fuhr. Als er seine Stelle als Assistenzarzt angetreten hatte, war er im rot-weiß gestreiften Komplettlederanzug und dem Helm in der Hand auf der Station aufgetaucht. Vielleicht sah Eva noch diesen unbeschwerten Ludwig in ihm, er konnte nicht darüber nachdenken, ohne dass es ihm weh tat. Er versorgte die Familie; er legte Geld für die Kinder an. Sie kauften nur gesunde Lebensmittel; sie verreisten. Manchmal aber erzählte er Eva und Stefan von seinem besten Freund, der als „Arzt ohne Grenzen“ in die Krisengebiete dieser Welt zog, nach Bosnien, Afghanistan, Pakistan. Dann schüttelte Ludwig den Kopf und sagte etwas wehmütig: Er braucht das wohl.
„Soll ich dir helfen?“, fragte er Eva, die den Ofen nicht anbekam.
„Du kannst mir nicht helfen“, gab Eva zurück. „Hilf dir lieber selbst.“
„Mensch, Eva.“
Alle Energie wich aus Ludwig. Er ließ seine Arme herabhängen, mit dem Messer in der einen, der halb geschälten Möhre in der anderen Hand.
„Ist doch wahr.“
Eva drehte sich langsam um. Er sah, dass ihre Augen gerötet waren.
Verdammt. Sie zog die Nase hoch.
„Ich –“
Sie sahen sich an. Fang du an, dachte Ludwig.
Gib du mal nach, dachte Eva, gib mir ein Zeichen.
„Tut mir leid“, würgte Ludwig heraus, „ich weiß nicht, was das ist.“
„Der Urlaub wird ein Desaster, Ludwig, wenn wir so weitermachen.“
Eva drehte das Feuerzeug in ihren Händen. Wenn wir uns jetzt einfach küssen könnten, wäre alles gut, schoss es ihr durch den Kopf, und dann sah sie Ludwig an und musste lachen. Ich finde ihn überhaupt nicht erotisch, dachte sie, er ist ein Bär, der sich erkältet hat.
„Wieso lachst du jetzt?“ Sein Ton wurde leicht autoritär. Sie lacht mich aus, dachte er.
„Nein, nein“, sagte Eva, als hätte sie seine Gedanken gelesen, „ich dachte nur gerade, wie komisch wir beide sind.“
„Komisch?“ Er wurde wütend, sein Nacken verspannte sich.
„Weil wir uns immer zanken müssen, wie zwei Kinder.“ Eva sagte es freundlich.
Du legst das Kind in mir frei, dachte Ludwig und erschrak. Wie kam er dazu, solche Sätze zu denken? Sie hatte ihn auf seine Kindheit schon direkt angesprochen. Aber seine Großeltern waren gestorben, und mit den Eltern hatte er gebrochen. Warum, hatte Eva gefragt. Wegen Geld, hatte er geantwortet, war aufgestanden, ich nehme mir jetzt mal den tropfenden Wasserhahn vor, und im Bad verschwunden.
„Ich helf dir und du hilfst mir, was hältst du davon?“, sagte Ludwig schließlich.
„Komm, gib mal her.“
Eva überließ ihm das Feuerzeug. Er drehte die Gasflasche zu, wieder auf, ließ den Zünder ein paar Mal anspringen, bis er die Flamme des Feuerzeugs annahm. Die Flamme verteilte sich über die sichtbare Fläche des Brenners, glimmte hinter dem Metallgitter violett auf.
„Es sieht schön aus, findest du nicht?“
„Ja“, sagte Ludwig. „Es ist schön, dass du immer auf die schönen Dinge aufmerksam machst.“
Der Ofen brannte gleichmäßig.
„Schön, schön, dann machen wir jetzt mal ein schönes Essen, ja?“
Ludwig entkorkte eine Flasche Rotwein.
„Komm“, sagte er, „wir trinken einen Schluck.“
Sie kicherten, und dann standen sie nebeneinander und schnippelten das Gemüse, froh, diese Klippe genommen zu haben. Auch wenn beide das Gefühl hatten, etwas unter den Teppich zu kehren, von dem sie nicht einmal hätten sagen können, was es eigentlich war.
Als Sibylle aufwachte, war es still. Beim Einschlafen hatte sie Ludwig und Eva nebenan klappern hören. Sie zog eine bequeme Hose und einen Pullover an und ging über die Terrasse in die Küche. Draußen duftete es nach Zitronen und Orangen, irgendwo unter den Bäumen hörte sie die Stimmen der Kinder. In der Küche war niemand, für das Abendessen stand alles bereit. Sibylle kochte Tee und freute sich: über das alte Büfett, den Wasserhahn aus Bronze, das tiefe viereckige Waschbecken aus weißer Keramik, die Steine, die als Arbeitsfläche dienten, die Kacheln. Dinge konnten sie glücklich machen, und wie so oft hatte sie den Wunsch, sie mit nach Hause zu nehmen und dort alles genauso zu gestalten wie in den Häusern, in denen sie leihweise wohnten.
Sie setzte sich an den Tisch und genoss es, einen Moment für sich zu haben. Sie war erschöpft. Von der Sonne, die brannte, von den Wolken, die Kälte mit sich brachten. Vom An- und Ausziehen der Jacken, von den bellenden Winden. Mit einem Mal war sie müde von ihrem ganzen Leben. Sie wollte gerade den Kopf auf den Tisch legen und ein bisschen heulen, als die Kinder hereinpolterten. Sie schrak hoch. Die Kinder wollten nur ein paar Kekse, dann rannten sie wieder fort.
Sibylle sah hinaus auf die Terrasse. Das letzte Sonnenlicht fiel auf den Holztisch mit den Zitronen, den Korb mit den Mandeln, den Stein, mit dem man die Mandeln aufschlagen konnte. Sie hatte am Morgen einige probiert. Die Mandeln schmeckten frisch, hinterließen aber ein beißendes Kribbeln auf Zunge und Gaumen, das bis zur Kopfhaut hinaufzog wie die Sehnsucht danach, allein zu leben.
Im Alltag hatte Sibylle kaum Zeit zum Nachdenken. Immer musste sie ihre Aufmerksamkeit auf die Patienten richten, die Kinder, Ludwig, und oft hatte sie kein Gefühl mehr für sich selbst. Die Tage waren angefüllt mit den Geschichten anderer. Manchmal diskutierte sie abends mit Ludwig besondere Fälle. Hast du den neuen Säureblocker ausprobiert? Was ist aus der stillenden Mutter mit dem Brustkrebs geworden? Soll ich den Schmerzpatienten in die Klinik einweisen? Nur wenn Eva und Stefan sie danach fragten,