Der stumme Raum. Herbjørg Wassmo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbjørg Wassmo
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783867548687
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die Decke – immer wieder, ohne zu wissen, was sie tat.

      »Ja, aber das hast du doch auch.«

      »Für mich ist das nicht schlimm. Ich hab doch dich …«

      »Nun … das ist ja wahr … aber … Ja, hat sie nichts gesagt?«

      »Wir haben geredet … Über vieles, Simon. Wir haben über alles geredet, worüber wir zehn Jahre nicht geredet haben – mindestens. Aber ich kann dir nicht alles sagen. Das musste verstehn. Es bleibt unter uns … uns Frauen, Simon. Sie hatte Angst, weil sie zwischen uns und Henrik gewählt hat. Sie glaubte, dass wir ihn nie mehr sehn wollten. Sie war ja gezwungen, Partei zu ergreifen. Wir … Das musste auch verstehen. Sie hat ja nur getan, was sie tun musste!«

      »Hättest du dich mit deiner Schwester überworfen, wenn ich Henriks Haus angezündet hätte?« Er sah sie mutig an. Als ob die Frage, die Möglichkeit ihm erst jetzt gekommen wäre. »Würdest du zu einem Brandstifter halten, einem Kriminellen, einem Verbrecher? Ja, beim ersten Mal war’s ein Wunder, dass niemand umgekommen ist! Ich hatt ja Leute in der Hütte liegen. Würdest du mir verzeihen? Ich frag ja nur!«

      Rakel ließ ihre Augen über das viereckige Gesicht gleiten, über den sehnigen, geschmeidigen Körper und die wilde Mähne. Dann sagte sie, gar nicht ihrer sonstigen Art entsprechend, ungewöhnlich langsam: »Wenn Ingrid loyal gegenüber einem Mann ist, der ihr so viele Jahre so viel Böses angetan hat und den sie vielleicht nie richtig geliebt hat, dann fürcht ich schon, dass es keine große Hoffnung für mich gegeben hätte, wenn du es gewesen wärst, der sich als Brandstifter versucht hätte.«

      Simon sah sie an, als ob er seinen eigenen Ohren nicht traute. Dann zog er schnell die Jacke aus und hängte sie über eine Stuhllehne. »Teufel noch eins! Ich meine: Das wär zu viel. Ich hätt deine dumme Nase nicht im Gefängnis sehn wollen, wenn ich dort sitzen müsste. Hörst du! Ich hätt dich nicht einmal flüchtig sehn wollen, damit du’s nur weißt. Sollen die Weiber so sein? Soll eine ehrliche Frau sich verpflichtet fühlen, zu einem Verbrecher zu halten, wie? Hat das einen Sinn? Nein, Rakel! Ich muss dir sagen, dass du so einfach nicht denken darfst. Du! Nein, da hättest du mir die Tür weisen müssen. Was soll aus der Welt und uns Männern werden, wenn ihr Frauenzimmer euch mit allem abfindet, was wir tun, und wenn ihr euch sogar unsretwegen mit euren Geschwistern entzweit? Glaubste, dass es dann in der Welt noch eine Hoffnung gäbe? Was?«

      Rakel erhob sich aus dem Schaukelstuhl. »Ich scheiß auf die Welt und die Männer. Jetzt geht es um Ingrid.« Aber ihre Stimme war voller Lachen, ganz Rakel. »Reg dich mal ab, zieh die Jacke über und zünd wenigstens die Kerzen an, wenn du schon nichts anderes anzündest. Sie können jeden Moment hier sein.«

      Simon kam zu ihr in den Flur hinaus. Er gab sich noch nicht geschlagen: »Du kannst das unmöglich meinen, was du gesagt hast?«

      »Sei jetzt friedlich«, fauchte Rakel, während sie die Haustür öffnete. Aber er zog sich die Jacke nicht wieder an.

      Tora hatte die Decke für den Küchenschrank mitgebracht. Sie lag draußen im Flur, damit niemand sie finden sollte, bevor Tora wieder gegangen wäre.

      Ingrid schenkte Rakel einen Glaskrug mit einem Deckel. Er war billig und alltäglich. Sie musste ihn während der Essenspause gekauft haben. Tora sah, dass die Mutter sich schämte und glaubte, dass es allzu wenig wäre …

      Sie sagte es auch. Stand unbeholfen an dem festlich gedeckten Tisch und bat um Entschuldigung für dieses bescheidene Geschenk. Aber Rakel drückte sie beide an sich. Ihre Augen glänzten und sie schüttelte energisch den Kopf. Dann stellte sie den Glaskrug auf den Tisch zwischen das kostbare Geschirr, als ob es ein Kristallkrug wäre. Die Kerzen warfen Schatten auf den Krug. Er fing an zu leben, meinte Tora.

      »Nein, wie fein du dich gemacht hast … Ich hätt auch das gute Kleid anziehen sollen … ich hätt es trotz allem tun sollen. Ich hab nicht so weit gedacht …«

      »Puh, es ist doch egal, was man anhat«, sagte Rakel mit auffallend lauter Stimme und sah auf Simons Jacke, die über der Stuhllehne hing.

      Er grinste den anderen breit zu, hinter Rakels Rücken. »Sie will partout, dass ich mich lächerlich mach und hier im Haus die Jacke anzieh, nur weil sie fünfunddreißig wird. Und das auch noch mitten in der Woche. So ’n Unsinn!«

      »Simon!« Rakel drehte sich auf dem Absatz um und drohte ihm mit geballter Faust. Ingrid lächelte matt.

      Tora setzte sich vorsichtig in einen der Sessel. Es ist genau wie früher, dachte sie. Genau wie früher. Wenn dieser Abend doch ewig dauern würde … Sie sah das ganze Leben voll solcher Abende vor sich. Saß in dem Sessel und platzierte Frits und Gunn und Randi und Sol in die anderen. Sie hörte die Mutter mit Rakel über harmlose, alltägliche Dinge sprechen. Sie sah, dass Onkel Simon die Schnapsgläser und das Limonadenglas von neuem füllte, während er Grimassen schnitt und Ingrids und Rakels Reden lautlos imitierte und Tora zuzwinkerte.

      Und Tora zwinkerte zurück.

      Hinter dem Glimmerfenster im Kamin tanzten Schatten, die eine wunderbare Geborgenheit schenkten. Alles war genau wie früher. Das andere – das war nur ein nächtlicher Albtraum, ein schrecklicher nächtlicher Traum. Nur ein eingebildetes Geschehen. Und sie nahm all das Schöne mit nach Berlin. Sie schob ganz Bekkejordet und alle zusammen, auch die Katze, in das große weiße Haus der Großmutter.

      Rakel hatte Hammelbraten gemacht. Dazu gab es Preiselbeeren und Gemüse. Simon schnitt den Braten auf und sie setzten sich zu Tisch. Ingrid hatte hoch oben auf jeder Wange einen kreisrunden roten Fleck. Sie wehrte ab, als Simon ihr Glas wieder füllen wollte. Aber er nötigte sie. Sie sah froh aus. Tora blickte sie lange an. Hörte dem Gespräch zu. Simon hörte meistens auch nur zu. Gelegentlich konnte Tora merken, dass die Stimme der Tante sehr hoch und ein kleines bisschen schrill war, als ob die Tante Angst hätte, dass Simon oder jemand anders etwas Falsches sagen oder tun könnte.

      Ja, Simon sprach übrigens nur einmal von dem Neubau. Aber Ingrid nickte und hörte ihm ruhig zu. Wischte sich mit der Serviette den Mund ab, bevor sie ihm antwortete, dass es wohl nötig gewesen sei. Tora hatte nicht gewagt, aufmerksam zu verfolgen, was da nötig gewesen sei.

      Spätabends gingen sie im Mondschein nach Hause. Der Regen war vorbeigezogen. Alles war schön. Es war bitterkalt in den dünnen Damenstrümpfen. Aber Tora achtete kaum darauf. Sie hakte sich bei der Mutter ein und hörte, wie es unter ihren Schuhen knirschte. Über dem Moor stieg aus dem Nichts langsam dünner, durchschimmernder Nebel auf. Beinahe wie Märchenschleier. Sie sprachen nicht miteinander. Gingen nur. Einmal gähnte Ingrid. Aber es war nicht das Gähnen, das Tora oft hörte, wenn die Mutter mutlos oder irritiert war oder am liebsten geweint hätte. Nein, es war ein gutes, müdes Gähnen.

      Um den Mond hingen ein paar Wolken. Aber er tat so, als ob er sie fortjagte, sobald er hervorkam. Er schien jedenfalls während des ganzen Heimwegs.

      Ohne es sich selbst erklären zu können, fiel Tora plötzlich die Geschichte von der Weihnachtsnacht und dem Jesuskind und dem Stern ein. Der leuchtete den Hirten durch die Nacht bis hin zum Stall.

      »Die Tante hat nur uns.«

      Das fuhr ihr so heraus. Ein Gedanke gebar den nächsten. Der Gedanke wurde ausgesprochen.

      »Sie hat ja keine Kinder … meine ich«, fügte sie schnell hinzu.

      Ingrid blieb einen Augenblick stehen und sah die Tochter an. Sie war groß geworden in diesem Herbst. Ingrid hatte es bisher gar nicht richtig bemerkt. Tora wirkte besonders groß und krumm im Mondschein. Es liegt ein sonderbares Licht über dem Kind, dachte Ingrid.

      »Nein …«, sagte sie, »sie hat nur uns. Dich.« Dann gingen sie weiter.

      Der Wind wurde stärker, es sah so aus, als ob das schlechte Wetter vom Tage sich fortsetzen würde und nur ein Zwischenspiel eingelegt hätte – eine Atempause.

      Das ganze Tausendheim war dunkel. Nur die zwei waren draußen und trieben sich in der Nacht herum, mitten in der Woche. Sie schlichen die knarrende Treppe hinauf. Lächelten einander an und schnitten Grimassen, wenn sie aus Versehen auf eine besonders ächzende Stufe traten.