Tora stand wie ein Schatten hinter der Mutter. Sie trug einen kleinen braunen Pappkoffer, der leicht zu sein schien. Dann legte der Küstendampfer am Kai an und spuckte eine Handvoll Leute auf die zersplitterten, vom Wasser angefressenen Kaiplanken. Die Stimmen, die Kisten und Fässer rollten bedächtig über die Reling, und der schwarze Schiffsrumpf schaukelte still vor sich hin, während alles wie gewohnt ablief.
Der Tag war klar, das Meer ruhig, die Möwen friedlich. Aber die Kälte biss. Der Verladekran jammerte böse, und man hörte von weitem das Knirschen der Füße auf dem Schnee. Ingrid wollte in die Stadt, und alle wussten warum.
Als die Fähre die Landzunge umrundete, um in die Bucht hinauszufahren, und in der scharfen Kurve leicht schwankte, stand Tora am Strand und winkte. Aber es war niemand an Deck. Und als das Schiff mit dem pechschwarzen Rumpf sein Aussehen veränderte und als grauschwarzes Gespenst in den Frostdunst hineinglitt und an der Tausendheimbrücke vorbei um die Landspitze herumfuhr, stand Tora mit erstarrten Händen und wehenden Zöpfen auf dem Hügel hinter dem Tausendheim. Dort lag die alte Fahnenstange auf dem Boden und ließ sich von den Möwen vollkleckern, während die Farbe abplatzte und das Moos wuchs.
Tora konnte nicht erkennen, ob jemand an Deck war, die Entfernung war zu groß.
Sie war so gerannt, dass sie ganz außer Atem war, aber die Kälte biss nicht mehr. Nur innerlich fror sie. Die Mutter hatte ihr zuerst nicht gesagt, was sie in der Stadt wollte. Sie hatte seinen Namen nicht erwähnt. Und Tora, die sah, dass die Mutter sich quälte, hatte stundenlang überlegt, wie sie ihr helfen könnte. Schließlich hatte sie gesagt: »Wirst du Kleider für ihn mitnehmen?«
»Nein.«
»Aber vielleicht etwas Brot?«
»Nein.«
»Er bekommt wohl alles, was er braucht?«
»Ja. Pass auf, dass dir nichts passiert, wenn du auf der Abkürzung nach Bekkejordet über die Eisbuckel gehst …«
Nun wusste die Mutter also, dass sie es wusste. Kein Wort wurde noch über Ingrids Vorhaben in der Stadt gesprochen.
Sie wollte am dritten Tag zurückkommen. Schneller war es nicht möglich. Das machte aber nichts, weil es in diesen Tagen in der Frosterei keine Arbeit gab.
Der Ofen in der leeren Küche war ausgebrannt. Es war ganz dunkel geworden. Die Geräusche im Haus waren ein gewisser Trost. Elisif kreischte da oben. Sowohl sie als auch die Mannakörner auf der Kommode funktionierten wie in alten Tagen. Elisif hatte eine noch ebenso scharfe Stimme wie früher, aber sie selbst war nicht mehr so tüchtig. Sol war schweigsamer und tüchtiger denn je. Tora suchte das Nötigste zusammen. Schulranzen und Kleider. Dann lief sie rasch und fröhlich den Weg hinauf nach Bekkejordet. Nur einmal – als Simons und Rakels Stimmen zu ihr in die Dachkammer mit dem weißen Bett drangen – überkam sie eine Art Trauer um die Mutter. Die warmen, vertrauten Stimmen aus dem Schlafzimmer da unten waren wie ein Hohn. Auch für Tora.
Aber es wurde still. Die ganze Welt lag ruhig in der Nacht. Die Kälte knackte im Haus. Ein kleiner mürrischer, schläfriger Laut.
8
Die Luft war zum Schneiden dick, es roch nach nassen Kleidern, stinkenden Fellstiefeln und Schweiß. Die harten Holzbänke waren absolut überfüllt. Manche versuchten mit wechselndem Glück, den Nachbarn wegzustoßen, um selbst etwas mehr Platz zu haben. Es gab Verwirrung, Unordnung und jede Menge Verwünschungen.
Halbwüchsige Mädchen und Jungen saßen ganz hinten. Eng zusammengedrängt – endlich, und ohne dass ihnen jemand einen Vorwurf machen konnte, saßen sie so dicht, als ob sie auf der ganzen Bankreihe nur ein einziger Mensch wären. Sie hingen in einer mehr oder minder glücklichen Symbiose aufeinander, je nachdem, mit wem sie zusammengedrückt wurden.
Mai aus Malø hatte sie zwei Wochen lang von den Plakaten her angesehen. Jetzt dürsteten sie nach Sinnengenuss und Spannung. Aber der blasse Filmvorführer konnte den Apparat nicht in Gang bringen. Er behauptete, dass er auf dem Transport zu kalt geworden sei. Aber er bekam nur ein vielstimmiges »Uuuuuuuu« zur Antwort. Das bedeutete, dass ihn das Schlimmste erwartete, wenn es ihm nicht gelang, die Dame auf die Leinwand zu bannen.
Tora und Sol, Jørgen und einer der Jungen aus Været hörten das Spektakel hinter sich. Jørgen schnäuzte sich in die Hand und machte anschließend Annäherungsversuche. Aber Sol hielt seine Hand hinten auf dem Rücken fest. Die vier hatten eine Stunde im Wind und im nasskalten Nebel gestanden, bevor sie eingelassen wurden, und sich Plätze in der zweiten Reihe gesichert – genau in der Mitte.
Es war himmlisch. Sie widerstanden dem Druck von beiden Seiten mit zusammengebissenen Zähnen und auf dem Sitz verkeilten Hinterteilen. Die Bank sackte gefährlich durch, weil die Stütze in der Mitte abgebrochen war. Aber sie regten sich nicht auf. Sie blieben ruhig und gelassen. Die Bank hatte ja bisher gehalten. Jørgen und Sol saßen außen und drückten die beiden anderen zusammen.
Tora spürte den harten Jungenkörper an ihrem. Ein Menschengestell, das mit Kleidern umhüllt war. Sie war nie einem Menschen so nahe gewesen, soweit sie sich erinnern konnte. Nicht so! »Verdammt, wie die da hinten sich prügeln.« Jørgen war sichtlich irritiert. Sicher auch, weil er selbst gern mitgemacht hätte.
Ein unerwarteter Ellbogen in die Seite hätte ihn beinahe auf den Boden befördert, und er bemühte sich wie wild, wieder in voller Breite in die Bank hineinzurutschen. Die Rache lag in gefährlich greifbarer Nähe.
Es gluckerte und rann draußen vor den Fenstern. Die Eiskristalle klebten an den Scheiben wie eine böse, eiskalte Warnung. Innen waren die Fenster beschlagen. Ab und zu lief etwas an den Scheiben hinunter. Ein einzelner dicker Tropfen hier und da, der am Glas herunterrann und den Blick für die Welt da draußen freimachte. Der Atem stand vor den erwartungsvollen Gesichtern wie Rauch, und die feuchte Luft ging durch Mark und Bein, ob man schon von vorher nass war oder nicht.
Sobald jemand durch die Eingangstür kam, stießen die frische, nasse Luft und der warme, feuchte Dampf aufeinander – und wurden zu einer jähzornig grauen Wolke. Die Wolke machte ein paar Drehungen in der Türöffnung, bevor sie nach draußen in die Dunkelheit verschwand. Endlich hörte man den Filmapparat surren. Kein Laut war mehr zu vernehmen außer diesem Surren.
Friede und Eintracht und atmende, halboffene Münder. Das Bild auf der Leinwand sah aus wie fliegende Reiskörner. Dann sammelten die Reiskörner sich gleichsam zu Feldern, ordneten sich wie durch ein Wunder von selbst. Jemand schaltete das Licht aus und man war an einem anderen Ort. Der Traum flimmerte auf das graue, nasse, vielköpfige Tier herab. Der Traum von einer anderen Welt, wo alles einen Perlenschimmer hatte und wo Freude und Melancholie herrschten. Wo die wahre Liebe beim Namen genannt wurde und nicht nur eine lichtscheue Affäre in irgendeinem sommerlichen Gebüsch war. In der dampfenden, feuchten Dunkelheit zitterte der Staub nervös im Lichtkegel des Apparates.
Wenn der Filmvorführer zwischendurch einmal von seinem braunen Holzstuhl zu dem Apparat ging, knarrten seine Schuhe ein wenig. Die am nächsten saßen, hörten es und fauchten leise und murrend: »Pst! Ruhe!« Es klang so, als ob ein Untier, ein Raubtier durch die Zähne schnaubte, bevor es angriff. Sie wollten nicht gestört werden, sie sammelten sich und brauchten ihre volle Konzentration. Tora vergaß, dass sie in dem ekelhaften Jugendheim saß, in das die Mutter nie mehr einen Fuß gesetzt hatte seit damals … Sie vergaß alle Weihnachtsfeste und die Feiern zum Nationalfeiertag, an denen sie nicht teilgenommen hatte, weil die Mutter sich immer krank fühlte, wenn im »Haus« etwas los war.
Das hier war besser, als Tagebücher auf dem Dachboden zu schreiben. Besser als alles! Es kribbelte leicht auf der Haut, ganz außen. So weit außen, dass sie Angst hatte, der Junge aus Været könnte es merken. Es begann dort, wofür es keine Namen gab außer