Mai aus Malø bekam keine Briefe von ihrem Liebsten, der zur See fuhr, weil der Briefträger Mai selbst haben wollte und die Briefe versteckte. Tora wurde so zornig auf das große Gesicht des Posthalters da vorne, dass sie sich in den Arm kniff, und Sol packte den Jungen aus Været am Arm, bis die ganze Bank wackelte, und sie waren glücklich und alles war so traurig.
Tora konnte irgendwo in der Dunkelheit einen winzig kleinen, unterdrückten Schluchzer hören. Und sie vernahm rund um sich herum ein heißes Keuchen in der schwülen, gespannten Stille. Nur der eine oder andere »Teufelsbraten« scharrte mit den Stiefeln und fühlte sich in der Dunkelheit sicher.
Aber nachher, nach dem hellen Licht und dem Suchen nach Handschuhen und Mützen, nach dem Gedränge am Ausgang, da atmete der Filmvorführer erleichtert auf und packte das Liebesabenteuer ein, während er eine selbstgedrehte Zigarette rauchte und sich überlegte, ob der Apparat am nächsten Ort auch wieder streiken würde. Er trug eine zerknitterte, abgewetzte Hose. Sie war mit ihm die ganze Woche durch dick und dünn gegangen. Er hatte sie in den verschiedenen Unterkünften, mit denen er vorliebnehmen musste, unter das Laken gelegt. Trotzdem sah sie traurig aus und hatte unten am Saum Schmutzflecke. Jede Nacht an einem anderen Ort. Er tröpfelte einige Tropfen Romantik zwischen die Steine am Strand. Er ließ die Rosen im Nebel aufblühen. Selbst im dunkelsten Adventswinter war Sommer. Dort, wo er den Apparat in Gang brachte. In einem Ort waren sie einmal auf ihn losgegangen, weil er das nicht geschafft hatte. Eine Bande aus halbwüchsigem Pöbel. Der Schweiß war ihm ausgebrochen, er hatte sich gewehrt, sogar angeboten, ihnen das Geld zurückzugeben. Aber sie wollten kein Geld – sie wollten Kino. Er hatte in dem modrigen Jugendheim gestanden und gespürt, wie ihn die Angst überkam. Denn die Tour musste eingehalten werden, und der Apparat ging nicht. Aber heute Abend … Heute Abend war er gegangen. Der zerfurchte, schmächtige Mann richtete sich auf und legte Mai aus Malø in die Blechdose. Der Film war ebenso verbraucht und verknittert wie er selbst. Obwohl er erst knapp vierzig war. Aber er brachte dennoch große Geheimnisse, große Erwartungen zu den Fjorden. Brachte Schlösser und Parks, die Unsterblichkeit der Liebe und des Menschengeistes, Irrwege in deutlichem Schwarz-Weiß. Alles zusammen auf die abgenutzten Filme gebannt. Jede einzige kleine Szene genau abgemessen, mit winzig kleinen Kerben an den Seiten. Kerben, die die Bewegung erst ermöglichten. Den ganzen Traum. Der die Seelen weit höher hob als irgendein Prophet oder Erweckungsprediger. Denn das Publikum war heißblütig und jung und mittleren Alters und alt – und jede und jeder hatte ein Meer von Träumen unter dem verwaschenen Hemd oder dem gestopften Pullover. Ein kleiner Anstoß war alles, was sie brauchten, um durch die Perlenpforte zu schlüpfen. Und der Filmvorführer gab ihnen Manna statt trocken Brot – und er gab ihnen die Herrlichkeit der Erde statt gekochtem oder gebratenem Fisch mit Kartoffeln. Er vertauschte die nicht gestrichene Küchenecke und die Hausaufgaben, die Bottiche voll beköderten Angel-Langleinen und die vereiterten Finger mit dem Traumwein, von denen er ihnen reichlich zu trinken gab.
Sie trotteten in der Dunkelheit nach Hause – grüppchenweise. Zwei oder drei oder auch mehr. Nur der eine oder andere einsame Wolf spielte die gleiche Rolle wie der verhasste Posthalter in dem Film und ging allein, während er unnötigerweise seine Stiefel verschliss, indem er alle Steine wegschubste, die auf dem Weg lagen. Denn so ist die Gerechtigkeit, hoch oben in den Fjorden im Norden wie auch sonst auf der Welt. Die Einsamkeit ist nie so groß wie dann, wenn der Mensch einen Traum gesehen hat.
Der Vorführer blieb noch eine Weile mit seiner Zigarette sitzen, nachdem schon alles gepackt und startbereit war. Dann erhob er sich. Langsam. Und schlich den Weg am Strand entlang zum Tausendheim und zur Tür der Kiosk-Jenny. Dort fand er den Traum, den er brauchte. Er bekam frisch gebratene Fischfrikadellen und Kaffee und saß in langer weißer Unterhose auf der Couch, weil Jenny den schlimmsten Schmutz von der Hose abrieb und sie dämpfte.
Für einige konnte der Himmel auch im Tausendheim sein. Die letzten Vorhänge wurden vorgezogen. Manche sandten einsame Signale hinaus in die Dunkelheit. Der Regen fiel auf Gerechte und Ungerechte und auf die zu Hause gebliebenen Schafe des Pastors. Sie standen dicht gedrängt bei ihrem Stall. Es blinkte plötzlich in einigen Schafsaugen unter der grellen Außenlampe.
9
Tora blieb vor den Brettern stehen, die als Brücke vom Weg hinüber zur Fischerhütte von Randi und Frits gelegt worden waren. An der einen Seite war ein Geländer. Sie stützte sich darauf und erinnerte sich an den Sommer: Sie war an einem der Pfosten, die die Brücke hielten, hochgeklettert und hatte sich das ganze Stück vom Weg bis zur Hauswand an den Brettern entlanggehangelt. Es war spannend gewesen, besonders in der Mitte, wo es zwei bis drei Meter in die Tiefe ging, hinunter zum steinigen Ufer. Randi war am Fenster aufgetaucht und hatte sie gebeten, damit aufzuhören. Tora hatte sich geschämt, nicht weil sie etwas Gefährliches unternommen hatte, sondern weil ihr aufging, dass sie eigentlich zu groß für so etwas war. Wenn die Mutter es gesehen hätte, hätte sie gesagt: »… und du als Mädchen und überhaupt!«
An diesem Abend stand Tora am Geländer und konnte die Tiefe nicht sehen. Hielt sich mit beiden Händen gut fest, und die Füße standen sicher und eben auf der Brücke. Trotzdem sah sie nichts. Die Dunkelheit hatte alle Steine und alles andere verschluckt. Im Sommer hatte sie sich am helllichten Tag mit bloßen Händen entlanggehangelt. Sie hatte die spitzen Steine gesehen, den glitschigen Tang, Papier und Gerümpel, tief unten. Sie hatte aber keine Angst gehabt. Nun war sie von diesem Anblick verschont. Dennoch fühlte sie die Tiefe als etwas Unbehagliches.
Sie wusste nicht, warum sie zurückgeblieben war – hinter den anderen. Plötzlich hatte sie gemerkt, dass Sol mit dem Jungen aus Været lieber allein gehen wollte. Tora hatte seinen harten Körper an ihrem gespürt – im Kino. Und eine feuchtkalte Welle von Abscheu brach über sie herein, als sie Sol und ihn sah. Es war ekelhaft, Zeuge von ihren Albernheiten und ihrem Gelächter zu werden. Sie behauptete, noch etwas für Rakel erledigen zu müssen, und eilte an der Wegkreuzung davon.
Sie wollte sich gerade losreißen und nach Hause wandern, als Randi in der Dunkelheit vor ihr auftauchte. Sie schien aus dem Nichts zu kommen.
»Ach, du bist’s, Tora!« Ihre Stimme klang ruhig und erfreut. Nicht gespielt freundlich, wie manche jetzt mit ihr redeten.
Tora nickte. Sie standen in dem sparsamen Licht der Außenlampe, und große, nasse Schneeflocken rieselten auf sie herab. Tora hatte Angst, dass Randi nicht gesehen hatte, dass sie nickte. Deshalb räusperte sie sich und sagte: »Ich kam grad vorbei, da … da bist du aufgetaucht …«
»Komm rein! Ich bin so allein, seit der Frits fort ist. Gunnar ist dauernd in der Fischfabrik, weißt du. Er hat so viel zu tun, seit der Bredesen so schlecht mit dem Rücken dran ist …« Das Letzte fügte sie nur flüsternd hinzu, als ob sie fürchtete, jemand könnte hören, wie froh sie war, dass wegen der Krankheit eines anderen Gunnar Überstunden machen konnte.
Sie nahm Tora in den Arm, wie sie es früher immer getan hatte. Es fiel Randi gar nicht schwer, andere Leute zu umarmen. »Komm doch erst mal rein!« Sie wollte Tora mit sich die schräge Brücke hinaufziehen.
»Ich weiß nicht … Ich war aufm Weg nach Bekkejordet. Ich hab nichts davon gesagt, dass es spät werden könnte. Die Mama ist – ist in der Stadt. Ich wohn solange …«
»Einen Augenblick – nur? Ich will dich nicht aufhalten, das kannste dir doch denken.«
Tora zögerte so lange, dass Randi schließlich sagte: »Nein, nein …«
Da hatte Tora plötzlich Angst vor der Dunkelheit und dem Alleinsein und sagte eilig: »Ich komm kurz rein.«
Der Raum empfing Tora mit seiner ganzen Gemütlichkeit.