Simon war mitten im Raum stehen geblieben. Es war ihm aufgegangen, dass Rakel es nicht richtig fand, dass er seinen Schwager wegen Brandstiftung angezeigt hatte. Und er begriff nicht, dass sie das anders sehen konnte. Hatte der Mann sich vielleicht nicht selbst für schuldig erklärt? Sogar mit einem Grinsen – und das vor Gericht! Vor den Augen von Simon und den Richtern und dem ganzen Saal. Hatte der Mann nicht ganz abgebrüht gewirkt bei dem Geständnis, gewusst zu haben, dass in den Hütten sieben Männer schliefen? Er wurde aus Rakel nicht klug. Sie hatte ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Gerechtigkeit. Simon musste immer daran denken. Er wusste gar nicht, dass er ein großer Held auf der Insel war. Dass er der solide und ehrgeizige Simon war, der sich in all seiner Majestät erhob und den Schwager ins Gefängnis schickte – weil die Gerechtigkeit schließlich ihren Lauf nehmen musste. Er war in den Augen der Leute so einzigartig, dass sie für eine Zeitlang Gesprächsstoff hatten und der Herbst ihnen deshalb nicht so grau und kalt vorkam.
Simon ging auf die Baustelle und kontrollierte und kommandierte ein wenig. Vielleicht würde er in der nächsten Saison wieder voll in Gang kommen. Die Männer hatten unbegrenztes Vertrauen zu ihm und trauten ihm zu, das Unmögliche zu schaffen.
3
Wie sie sich verhalten hatte, das musste doch einfach richtig gewesen sein. Musste es sein! Außerdem hatte Onkel Simon ja begriffen, wer den Brand gelegt hatte, auch wenn sie es ihm nicht gesagt hatte. Scham? Warum schämte sie sich nicht, weil er im Gefängnis saß? So wie sich ihrer Meinung nach ihre Mutter schämte? Lag es daran, dass sie irgendwo einen Vater hatte? Tot und unter der Erde, schon vor ihrer Geburt. Aber trotzdem. Oder schämte sie sich nicht, weil sie so froh war, dass sie sich in der Kammer sicher vor der Gefahr fühlen konnte? Mit diesem Mann hatte sie nichts zu schaffen.
Tora schlenderte an Ottars großem neuem Schaufenster vorbei. Ottar hatte seinen Laden erweitert. Die Straße musste jetzt einen großen Bogen machen. Die Leute redeten darüber, dass Ottar so protzig geworden war und nur deshalb angebaut hatte, damit er ein Schaufenster bekam und man seine Waren sehen konnte – und er hatte es so unpraktisch gemacht, dass der Weg jetzt einen Bogen um den Anbau machen musste. Aber sie fanden es eigentlich ganz schön. Waren stolz auf das Fenster, als ob es ihr eigenes wäre. Ottar führte jetzt auch Kleider. Er hatte Baumwollpullover ausgestellt, mit einem hohen Kragen und einem Gürtel um die Taille. Die Pullover waren gestreift, »in delikaten Farben«, wie Ottar sagte.
Ja, und dann waren Teddyjacken eingetroffen. Die auf beiden Seiten getragen werden konnten. Ottar strich sich die Haare glatt und drehte die Jacken um, so dass die rote Seite innen saß und die graue, flauschige außen. Er drückte die Knöpfe auf der verkehrten Seite wieder zu – und alles war ein Wunder.
Tora presste die Stirn an die Scheibe und starrte hinein. Wer doch eine solche Jacke haben könnte.
Sol und sie hatten es eines Tages gewagt, in den Laden zu gehen und eine Jacke anzuprobieren. Sie war wunderschön und warm und roch so gut.
Sol passte sie nicht, und sie war froh darüber – denn dann brauche sie nicht länger daran zu denken, sagte sie. Aber Tora hatte die wasserblauen Augen gesehen. Sie waren unnatürlich groß gewesen. Ohne Grenzen.
Der plumpe Körper von Sol aus dem Tausendheim. Sie machte sich selbst darüber lustig. Dann ließen es die anderen sein. Alles, was sie mit Putzen verdiente, gab sie zu Hause ab. Tora wusste es, auch wenn Sol es nie erwähnte. Elisif, die eigentlich die Mutter hätte sein sollen, hatte genug damit zu tun, ihren Gott zu verehren, so dass alle Arbeit an Sol hängen blieb.
Tora glaubte, Sols Hand zu sehen, wie sie sich liebevoll mit der Teddyjacke im Schaufenster befasste, wie an dem Nachmittag beim Anprobieren. Der kräftige große Daumen wirkte seltsam fehl am Platze auf dem neuen Kleidungsstück. Es war dieselbe Hand, die Tora unzählige Male bei der Arbeit gesehen hatte. Sie hatte abgeknabberte Bleistiftstummel festgehalten, wenn Sol mit ihren Aufgaben am Küchenschrank saß – und alle Stühle weggeschoben waren, damit die Kleinen nicht an ihr hochklettern konnten. Deutliche schwarze Ränder unter den Nägeln. Es lag nicht daran, dass Sol unsauber war. Aber bevor sie sich an die Aufgaben setzte, wischte sie meist noch den Boden auf. Um sie herum musste es ordentlich sein, wenn sie ihre Schularbeiten machte. In dieser Beziehung ähnelt sie meiner Mutter, dachte Tora.
Treppe putzen setzt sich unter den Nägeln ab. Asche ausleeren. Setzt sich auch unter den Nägeln ab. Kohle schaufeln. Heizen. Alles setzt sich wie ein Trauerrand unter den Nägeln einer Arbeitshand ab. Wie unermüdlich Sol auch an ihren Nägeln kaute, es waren doch immer Ränder da.
Sie waren noch intensiver rot geworden, ihre Hände – seitdem Sol mit der Schule fertig war und den ganzen Tag putzen ging. Hellbraune Sommersprossen schmückten die Arme oberhalb der Handgelenke. Aber sie waren hier eigentlich fehl am Platz. Die Hände waren trocken und rissig. Runzelig und zerknittert auf der Oberseite, glatt wie vom Meer abgeschliffene Steinen auf der Unterseite. Hie und da kleine Wunden und Schrammen. Nicht der Rede wert. Nicht groß genug, um einen Lappen oder ein Pflaster aufkleben zu müssen. Sie waren einfach da … Sol trug sie mit sich, wo sie auch hinging. Und die Jacke passte nicht. Weder zu dem Körper noch zu den Händen. Tora empfand plötzlich eine unerklärliche Zärtlichkeit für Mutters und für Sols Hände. Es war wie das Gefühl, das sie ab und zu hatte, wenn sie einen kleinen Fisch vom Haken losmachte und ein oder zwei Sekunden zögerte, ehe sie ihn wieder ins Meer warf, weil sie überlegte, ob er wohl zu schwer verletzt sei, um zu überleben. Und der Gedanke beschäftigte sie noch lange danach. Sie glaubte, den Fisch dort unten zu sehen. In Schräglage, mit unkontrollierten, kraftlosen Schwanzschlägen. Sah, dass der Kieferknochen quer abgerissen war. Sah, dass ein Knochensplitter aus der grauen Fischhaut ragte. Aber es war ein so kleiner Fisch – ein so kleiner Knochen. Es gab so viele Fische im Meer. So viele Hände. So viele Wunden. Die größer waren.
Auf dem Heimweg ging Tora an der Hütte von Frits und Randi vorbei. Drinnen war alles dunkel. Da waren sie wohl nicht zu Hause.
Er war auch wie eine Wunde, unter der Haut. Frits. Nicht so sehr, weil er taub war und nicht sprechen konnte. Eher, weil sie immer an die Gefahr dachte, wenn sie ihn sah. An dem Morgen, als sie unter dem Fischgestell von ihm fortgelaufen war, hatte sie ihn verloren. Weil er nicht wusste. Niemals wissen durfte, dass er der Erste war, der sie angefasst hatte, nachdem … er …
Später ging sie ungern in die Nähe des Kais und der Hütte, wo Frits wohnte. Den Sommer über hatte sie am Strand auf den Steinen gesessen und über die kleinen Inseln hinweggestarrt, während der feuchtkalte Wind sich ungebeten unter die schäbige Strickjacke geschlichen und ihr das Wasser aus den Augen getrieben hatte. Und es gab etwas, wofür sie keinen Namen finden konnte.
Sie wusste nicht, was ihr am meisten fehlte: Randi, die Bücher, die Musik – oder Frits.
Später dachte sie nicht mehr darüber nach. Es war etwas Fremdes in ihre Gedanken gekommen, soweit es ihn betraf. Es war eine Art gefühllose Erwartung. Den ganzen Sommer über hätte sie ihn gern getroffen. Und sie wollte es auch wieder nicht. Sie wollte zu ihm gehen. Dort sitzen mit der roten Decke über den Beinen und lesen. Wollte ihn anschauen – sein Gesicht erforschen, wenn er es nicht merkte. Aber gleichzeitig – wollte sie es nicht. Nun lag Mutters Schande wie ein Deckel über dem Ganzen. Er saß im Gefängnis. Tora konnte nicht mehr zu Frits gehen. Wäre am liebsten nirgendwo mehr hingegangen.
Trotzdem schlich sie oft bei Frits vorbei, wenn sie allein war. In der letzten Zeit hatte es sich ergeben, dass sie immer allein war. Nun war er in seine Taubstummenschule gefahren. Frits … Er würde erst zu Weihnachten wieder nach Hause kommen. Randi hatte Sol getroffen und nach Tora gefragt. Hatte