Der Vater geht ins Büro, ehe sie aufgestanden ist. Wenn er nach Hause kommt und sich in den besten Sessel setzt und seufzt, ist sie bereits in dem Zimmer, das sie mit der Schwester teilt. Sie hofft, dass er dann die Mutter in Ruhe lassen wird.
Schließlich fängt er an, auf dem Flur darüber zu reden, dass »dieses Mädchen« der ganzen Familie Schande gebracht hat. Die Mutter erinnert ihn daran, dass die Schande darin liegt, von den anderen im Haus gehört zu werden. Die leise, gebieterische Stimme dringt durch die Wände zu ihr durch.
Nun geht der Vater in das ockergelbe Haus und zu seiner Verwandtschaft. Dort darf er weinen und schreien. Und die Mutter kann in Ruhe alles erledigen, was erledigt werden muss.
Es wird jetzt früh dunkel. Sie trägt einen weiten Anorak mit Kapuze. Eines Abends tut sie das, was sie sich vorgestellt hat. Klettert hinauf. Das Brückengeländer ist eiskalt. Der Fluss zischt »komm!«. Die Strömung ist reißend.
Sie verspürt eine Angst, die fast so groß ist wie die Schande in ihrem Bauch. Es ist unmöglich zu sagen, wovon ihr mehr schlecht wird. Sie wartet darauf, dass sie ohnmächtig wird, um es nicht selbst tun zu müssen. Es ist offenbar eine furchtbare Sünde, es selbst zu tun. Aber was sein muss, muss nun einmal sein. Gott kann sie nicht strenger bestrafen als ohnehin schon. Und die Auferstehung ist sowieso nicht für solche wie sie gedacht.
Sie hat sich oft gefragt, wer sie wohl vermissen wird. Viele sind es nicht. Die kleine Schwester ist vielleicht die Einzige. Sie wird ja nichts von alldem verstehen. Die Mutter der Mutter, vielleicht, aber die hat ja so viele. Sie hat ihr Leben lang Menschen verloren und ist daran gewöhnt. Die andere Großmutter wird weinen. Jedenfalls im ersten Augenblick. Die alte Tante wird wohl trauern und seufzen, aber wird sie ihr fehlen? Die Familie wird ein großes Problem weniger haben. Das weiß sie ja. Nach der Beerdigung werden sie auf andere Gedanken kommen. Sogar die Mutter. Sie hat das Leben der Mutter fast unerträglich gemacht. Hat ihr Gesicht gesehen, wenn sie aus dem Laden kam und anderen begegnen musste. Gequält. Leer. Wie ein vergessenes Bild in einem Malbuch. Wird sie erleichtert sein?
Sie können sagen, sie sei immer so leicht gefallen, sie hätten eigentlich schon drauf gewartet. Es ist ja vorgekommen, dass sie auf dem Boden gelegen hat, verkrümmt und mit Schaum vor dem Mund. Vielleicht ist es so passiert? Dass sie sich aus irgendeinem Grund über das Geländer gebeugt und einen Anfall erlitten hat? Dann war es ja keine vorsätzliche Tat.
Der Vater wird erleichtert aufseufzen und weinen, wenn andere ihn ansehen. Er wird allen, die es sich anhören mögen, eine dramatische Geschichte erzählen über etwas, das er nicht miterlebt hat. Froh wie eine Lerche im Frühling. Er hat schon längst begriffen, dass er nicht wissen kann, was ihr alles zuzutrauen ist. Jetzt sitzt sie da und klammert sich an ein eiskaltes Geländer und tut sich selbst leid. Das hat sie sicher vom Vater, überlegt sie.
Tief dort unten scheinen die Wassermassen kehrtzumachen. So ist es nun einmal. Bei Flut kommen die Wassermassen durch die schmale Öffnung und in die verschlossene Bucht. Sie hat dem Onkel mehrmals geholfen, das Boot hindurchzurudern, genau zwischen Ebbe und Flut, wenn die Strömung weniger reißend ist. Manchmal schäumt das Wasser auf. Jetzt aber nicht. Die Strömung hält den Atem an und wartet auf sie.
Zwei Eiderenten tauchen zwischen den Felsen auf und gleiten durch die Wirbel, als sei alles nicht weiter wichtig. Die Laternen auf der Brücke lassen die dunklen Federn des Erpels aufleuchten. Das Weibchen ist einfach nur graubraun. Die Häuser hinten auf der Odde haben schwarze Umrisse, als ob sie sie gezeichnet hätte.
Wird sie schon tot sein, wenn die Strömung sie ins offene Meer reißt? Wie lange braucht man zum Ertrinken? Warum weiß sie dermaßen wichtige Dinge nicht?
Zu ihrer Demütigung kommt jetzt jemand. In der Dunkelheit kann sie nicht sehen, wer es ist. Es ist beschämend und kindisch, dass sie so nutzlos dort herumsitzt. Also klettert sie schnell wieder herunter.
Als der Mensch ihr mit dunkler Stimme einen guten Abend wünscht, erwidert sie diesen Gruß. Er sagt nichts darüber, dass er sie gesehen hat. Als ob das einfach ab und zu nötig wäre: auf einem Geländer zu sitzen und in die Ewigkeit hinunterzuschauen. Er geht einfach an ihr vorbei. Wie an einem Pferdeapfel. Oder einem Menschenschatten.
Vermutlich ist das das Problem. Dass sie eigentlich nur der Schatten von etwas ist. Oder der Abfall. Etwas, das jemand weggeworfen hat. Sie lehnt sich an das Geländer und hat ein seltsames Gefühl im ganzen Leib. Eine Art Lähmung. Es ist nicht das erste Mal. Aber es war noch nie so stark. Das Gefühl sagt, dass sie nicht hier auf der Erde ist. Dass sie nur so tut. Und sie muss eben weiter so tun, solange das geht, denkt sie.
Die Menschen wünschen trotz allem keinem Pferdeapfel einen guten Abend.
Sie bringt es nicht einmal über sich, wieder auf das Geländer zu klettern.
Diese Fremdheit.
Der Riss in ihrer Brust ist mit Stacheldraht genäht.
Es gibt Menschen, die eine solche Schande sind, dass man sie nicht zur Schule gehen lassen darf. So ein Mensch ist sie. Sie darf nicht gesehen werden. Jetzt, wo alle es wissen und wo sie von der Schule abgegangen ist, kann sie nichts mehr hinunterbringen. Was, wenn es so einfach ist? Einfach mit Essen aufzuhören? Aber die Mutter hat ihre Gedanken offenbar erraten.
Wennde nix isst und krank wirs, wird alles für mich auch noch schlimmer, kapierste das nich?
Zum ersten Mal erwähnt sie, dass ihr Leben nicht gut ist. Aber sie kocht Bouillon und die trinken sie zusammen, am Küchentisch. Danach isst sie eine halbe Schnitte Brot mit Himbeermarmelade, während die Mutter ihr schweigend zusieht.
Von nun an beobachtet sie ihre Mutter, um zu wissen, wie schlecht es der geht. Je bleicher und erschöpfter die Mutter aussieht, umso mehr versucht sie zu essen. Aber es kommt wieder hoch.
Die Schande will nicht zwangsernährt werden.
Zwei Lehrer kommen zu ihr nach Hause, um ihr beim Lernen zu helfen. Die Mutter hat sie darum angefleht. Die Schule hat keine Examensberechtigung, deshalb müssen alle privat zum Examen antreten. In dieser Hinsicht ist sie nicht die Einzige. Sie lernt und löst Aufgaben, obwohl sie weiß, dass sie vor dem Examen sterben wird. Schon im Januar wird sie sterben. Und das Examen findet erst im Mai und Juni statt.
Die Mutter geht zu der alten Hebamme, die die nächste Nachbarin ist, und bittet sie, nach ihr zu sehen. Vielleicht kann sie das Kind holen, wenn es so weit ist, dann braucht sie, so jung, wie sie ist, nicht in der Ferne im Krankenhaus unter Fremden zu liegen.
Die alte Hebamme sieht nach ihr und tastet sie ab. Verspricht nichts, sagt aber auch nicht nein.
Es ist doch klar, wenn das Mädchen einen Blutsturz erleidet oder das Kind falsch liegt, krieg ich die Schuld, ich altes Weib, sagt die Hebamme und seufzt.
Aber sie scheint keine besondere Angst zu haben und schließt mit einer Mahnung. Eine Schwangere muss ordentlich essen, sonst geht es schief, droht sie.
Der Bauch wächst, auch wenn sie nur ab und zu ein Brot hinunterbringt. Sie geht nicht mehr aus dem Haus. Sie liest nur noch. Liest und liest. Vor allem für die Schule. Aber sie scheint ein Loch im Kopf zu haben, denn alles, was sie abends zu wissen glaubte, ist verschwunden, wenn sie aufwacht. Die Nacht hat es durch Ohren, Nase und Augen entweichen lassen. Sie ist undicht wie ein Sieb und ihr Bauch wächst.
Die kleine Schwester begreift nicht, dass es eine solche Schande ist, dass sie ein Kind erwartet. Sie will lernen, dafür etwas zu stricken, sagt sie. Die Mutter sagt, es sei kein das, sondern ein Mensch.
Sie suchen hellgrüne Wolle heraus und fangen an. Sie fängt die Maschen auf, die die Schwester immer wieder fallen lässt. Es geht langsam. Wenn die Schwester schläft, strickt sie ein wenig weiter, um ihr zu helfen. Das ist das Mindeste, was sie tun kann.
Wem wird das Kind wohl ähnlich sehen?, fragt die Schwester munter.
Sie sagt, sie hoffe, es werde ihr ähnlich sehen, sie sei doch die Tante.
Die Schwester kostet das Wort »Tante« aus und fragt, warum sie das glaubt.