Sie legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen, um für sich zu sein. Nicht der Junge macht ihr Angst, sondern dass sie das Gefühl hat, nicht entkommen zu können. Sie hört ihn reden, begreift aber nicht, was er sagt. Er bemerkt, dass sie nur dasteht. Dann lässt er die Hände sinken.
Ist schon gut, sagt er.
Die Möwe schreit. Sie ist dieselbe wie vorher. Steht nur ruhig da, um für sich selbst wieder deutlich werden zu können. Sonst ist sie für die anderen doch nicht zu sehen.
Die anderen sind die, die lachen. Die in Grüppchen zusammenstehen. Die alles wissen, was sie nicht weiß. Zum Beispiel, warum sich der Junge aus dem Sommer nicht bei ihr meldet. Die vielleicht gesehen haben, dass sie zittert, wenn sie neben dem Tisch stehen und etwas aufsagen muss. Die deutschen Beugungen. Präpositionen. Und an der Tafel die langen Reihen aus ungelösten Gleichungen. Die wissen, dass ihre Haut zur Gänsehaut wird, schweißnass. Um dann einzutrocknen. Nicht gut zu riechen.
Einige sammeln Beweise. Prüfen. Schreiben Zeugnisse. Leumundsatteste. Diskutieren Bewerbungen auf einen Studienplatz. Andere sitzen hinter dem Küchenvorhang und wissen alles über sie, was sie selbst noch nicht durchdenken konnte. Sie sind froh oder wütend, aber niemals leer. Sie haben das Recht zu urteilen. Sogar über das, was sie nicht wissen, aber zu ahnen glauben.
Der Vater ist noch immer auf und sitzt mit seinem Grinsen in der Küche. Sie geht nicht hinein, sondern schließt die Tür, ohne etwas zu sagen und ohne das Butterbrot zu holen, das sie braucht. Sie trinkt einfach nur am Hahn über dem Waschbecken im Badezimmer. Die Tür hat einen soliden Eisenschlüssel, den der Dichter einmal umgedreht hat. Es riecht nach feuchtem Handtuch und altem Dampf. Die rot angestrichene Badewanne mit den Löwenfüßen und dem patinagrünen Kupferkessel sieht fremd aus. Kalte Asche liegt auf dem Brett unter dem Ofen.
Einst saß der Dichter in der Badewanne, denkt sie. Der Dichter hatte auch einen Körper. Das ist ein seltsamer Gedanke. Jetzt gehört das alles der Gemeinde. Und der Dichter ist tot. Er ist nur noch Schande und Verrat am Vaterland. Der Vater bezahlt die Miete, damit sie dort wohnen können. Der Vater ist überall in den Zimmern. Auch nachts.
Der Winter ist nasse kalte Wolle. Und Lachen auf der zweijährigen privaten Realschule. Sie weiß nicht immer, worüber sie lacht. Das macht nichts. Das Wichtigste ist, dass sie lacht.
Sie tanzt Rock ’n’ Roll mit einem, der älter ist als sie und Elektriker werden will. Man kann darüber lachen, was er sagt. Er singt und zitiert Texte von jemandem, den sie nicht gelesen hat.
Sie tanzen in den Jugendheimen überall in den Dörfern. Akkordeon und Gitarre, die versucht, so zu heulen, wie man das im Radio hört. Die Eltern sind nicht da. Sie denkt, dass sie vielleicht früher nie gelacht hat. Aber das kann doch nicht stimmen. Sie versucht sich daran zu erinnern, worüber sie gelacht haben kann, ehe sie angefangen hat, Rock ’n’ Roll zu tanzen. Sie vermisst ihre Vettern und Kusinen in dem Ort, den sie verlassen haben. Kann sich an nichts erinnern, aber sicher war das Lachen bei ihnen.
Ist es normal, sein Leben vergessen zu haben, wenn man fünfzehn ist, überlegt sie und wünscht, die Mutter, die Schwester und sie selbst könnten allein wohnen. Seine Mutter, seine Tante und sein Bruder leben in dem ockergelben Haus. Nicht weit von dem großen weißen, in dem einmal der Dichter gehaust hat. Jetzt mieten ihre Eltern einige Zimmer im ersten Stock.
Der Elektrikerlehrling geht mit ihr auf sein Zimmer, das er bei einer alten Dame gemietet hat. Das ist nicht erlaubt. Sie schleichen sich mit den Schuhen in der Hand die Treppe hoch. Er brät auf einer alten Kochplatte, an der er einen neuen Schalter angebracht hat, Eier mit Speck. Danach lüftet er gründlich aus, damit der Essensgeruch sich nicht festsetzt, denn dann gerät die alte Dame außer sich. Sie ist bestimmt schon über fünfzig.
Sie sitzen im Schneidersitz auf dem Bett und essen, fröstelnd vor dem offenen Fenster mit den Eisblumen zwischen den Sprossen. Die Blumen fangen von innen an zu weinen. Es tröpfelt ein wenig. Der Speck bekommt eine kalte feste Haut. Der Elektrikerlehrling sagt, sie solle schneller essen, ehe das Essen kalt wird. Er lächelt strahlend. Seine Augen leuchten in der Dunkelheit.
Nur die Nachttischlampe brennt. Auf Tisch und Boden liegen Leitungen, Stecker und Werkzeug herum. Alles knackt. Die Treppe, die Tür, der Stuhl, das Bett. Die Wände haben Ohren und Augen. Dennoch sind sie auf die Dauer nicht richtig leise. Er hat keine besonderen Hemmungen. Aus nächster Nähe riecht er nach frischer Seife und Rasierwasser.
Sie darf nicht so heftig und lange tanzen, dass sie fallen könnte. Dennoch tanzt sie. Sie trägt Ballerinaschuhe und einen schwarzen Taftrock mit Stretchgürtel. Hat ihn selbst genäht. Ein einziger großer Kreis mit dem Loch für die Taille in der Mitte. Der Unterrock ist steif, wenn sie ihn flach auf den Boden legt. Der Unterrock ist steif und wippt, wenn sie sich bewegt. Der Rock beschützt sie. Die Welt kann sie nicht erreichen. Sie fühlt sich lebendig und mutig.
Vielleicht ist sie den Ohnmachten fast schon entwachsen?
In blitzschnellen Augenblicken klammert sie sich an die ausgestreckte Elektrikerfaust. Dann lässt sie sie los und hält sich selbst schwebend im Weltraum.
Zu Besuch nach Schweden gehen
Sie fürchtet sich nicht mehr vor dem Vater. Sagt ihm, dass sie alles aufgeschrieben hat, und wenn ihr etwas passiert, dann gibt es einen Menschen, der es finden kann.
Sein Blick irrt umher, dann starrt er sie an und stürzt zur Tür. Der Vater tut das immer, wenn er aus irgendeinem Grund wütend oder verärgert ist. Sie hat sich schon lange überlegt, dass er kein Mensch ist. Sondern nur etwas, das man haben muss. Inzwischen ist ihr klar, dass sie eine Art Oberhand hat. Versucht, nicht zu denken, dass er dahinterkommen kann, dass der »eine Mensch«, der weiß, wo der Beweis versteckt ist, sie selbst ist.
Sie zeigt ihre falsche Macht. Wenn Schwester, Mutter und sie am Küchentisch sitzen und reden, wenn er nach Hause kommt, verstummt sie. Und sie sieht ihn nicht an. Eine zähe Haut legt sich über die Gestalt in der Tür. Undurchdringlicher Schlamm, den man nicht ansehen darf. Wie der vergessene Kessel in der Trankocherei auf der Insel, mit dem stinkenden geronnenen Tran auf dem Boden.
Sie kann die Stimmung im Zimmer ändern durch das, was sie über die Gestalt in der Tür denkt. Mutter und Schwester halten ebenfalls inne und sind still. Als wüssten auch sie. Aber es kann nicht gesagt werden.
Der Vater hat beschlossen, dass sie zu seiner Schwester in Schweden gehen werden. Sie kennt niemanden, der jemals so etwas gemacht hat. Sie stellt sich vor, dass sie wie Schafe in einer kleinen Herde durch das Gebirge streifen werden. Nur dass die Schafe keinen Rucksack tragen müssen und Grashalme ausrupfen, wo es ihnen gerade passt, und sich, wenn es Abend wird, unter einem Felsvorsprung verkriechen und sich dann kauend schlafen legen können.
Mit dem Vater auf Wanderschaft zu gehen ist, wie mit einem Radio unterwegs zu sein, das den Sender nicht klar hereinbekommt. Es sendet die ganze Zeit Befehle, Klagen und sinnlose Geschichten. Und Wutanfälle …
Zuerst fahren sie mit dem Bus zu dem letzten Ort vor der Grenze. Von da aus werden sie mit Rucksack, Schlafsack und Zelt durch die Berge wandern. Der Vater packt Kompass und Karte ein, die Mutter und sie alles andere. Sie hilft der Mutter dabei, Merklisten zu schreiben.
Sie müssen unterwegs mindestens zwei Nächte im Zelt verbringen, sagt er, und sie brauchen Verpflegung für mindestens vier Tage, für den Fall, dass es Nebel oder ein Unwetter gibt und sie irgendwo unterkriechen müssen. Er ist König, während er erklärt und dirigiert. Großmutter, Onkel und Tante schütteln den Kopf. Sie sitzen in ihrem ockergelben Haus und schütteln den Kopf. Aber sie kritisieren den Vater nie, wenn er in Hörweite ist.
Sie weiß nicht, ob es daran liegt, dass ihr vor der Tour graust, aber sie erbricht sich fast jeden Morgen und wird häufiger ohnmächtig als sonst.
Ich will nich mit!, sagt sie eines Morgens zur Mutter.
Unsinn!, antwortet die Mutter, und damit ist der Fall erledigt.
Wenn