Sie versucht auch, ihre Träume zu zeichnen. Aber das verdirbt ihr die Stimmung. Entweder ist es zu hässlich oder zu töricht. Erinnert sie daran, wie feige und ausweichend sie ist. Als ob sie nur wartet. Sie watet durch ihr Leben und wartet.
Raskolnikow
Die Tasche lastet schwer auf ihrer Schulter. Sie hätte einen Rucksack nehmen sollen. Aber sie hatte gedacht, dass sie nach der Schule vielleicht noch in die Bücherei gehen würde. Sie kann sich nicht immer erinnern, was sie eigentlich vorgehabt hat. Sie ist gleichsam gespalten, als wäre sie mehrere Menschen auf einmal.
Im Treppenhaus riecht es nach Frikadellen, deshalb läuft sie rasch auf ihr Zimmer. Es bringt nichts, den Hunger zu wecken, da sie an diesem Tag nur belegte Brote hat. Jetzt bereut sie, keine Fischfrikadelle gekauft zu haben.
Sie legt die ausgeliehenen Bücher auf den Schreibtisch. Zwei davon gehören zusammen und sind von einem Russen geschrieben worden. F. M. Dostojewski. Sie hat von ihm gehört, aber noch nichts von ihm gelesen. Der Rektor hat im Unterricht über diesen Schriftsteller gesprochen und das Wort »Weltliteratur« benutzt.
Die Bücher, »Schuld und Sühne« Band 1 und 2, sind uralt, ohne festen Einband und scheinen nicht viel gelesen worden zu sein. Immerhin sind die Seiten aufgeschnitten. Sie sind vergilbt und kleben zusammen, sie muss die Blätter mit aller Vorsicht voneinander lösen. Die Titelseiten hat eine Person namens V. Setoft gezeichnet. Es könnte schön sein, Zeichnen und Malen als Beruf zu haben, denkt sie. Aber davon kann man sicher nicht leben. Das sind nur kindische Träumereien.
Der erste Band zeigt einen jungen Mann mit grüngelbem Gesicht und düsterer Miene zusammen mit einem fetten Kerl mit roter Visage. Und einer Axt. Der zweite Band zeigt den jungen Mann, noch immer düster sitzt er auf einem Bett. Vor ihm steht eine Frau mit dunklen Haaren und rotem Tuch. Der Mann heißt offenbar Raskolnikow.
Sie setzt sich mit geradem Rücken an den Schreibtisch und fängt an zu lesen. Das Buch ist auf Dänisch, sieht sie. Soll sie es zurückbringen? Warum hat eine norwegische Bücherei Bücher auf Dänisch? Ihr Blick gleitet über die erste Seite und sie merkt, dass kein Wort dort für sie unverständlich ist. Nur ungewohnt.
So fängt es an:
An einem der ersten Tage des Juli – es herrschte eine gewaltige Hitze – verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S…gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K…brücke ein.
Irgendwann spürt sie, dass sie vergessen hat, Wollsocken anzuziehen. Aber sie tut es auch nicht mehr. Viel später an diesem Abend kommt sie zu sich und ihr geht auf, dass sie nichts für die Schule getan hat.
Sie stehen zwischen zwei hohen Bretterzäunen. Der elende Raskolnikow und sie. Die Schneewehen reichen bis zum weißen Himmel. Sie beugt sich vor und sagt zu ihm:
Du hast das einfach getan? Sie umgebracht?
Er drückt wortlos ihre Hand.
Du hast es getan, um zu beweisen, dass du stärker bist als alle anderen? Dass du entscheidest? Wenn Gott nichts unternimmt, dann eben du?
Er drückt abermals ihre Hand.
Und jetzt?, will sie wissen.
Seine Hand wird schlaff und ein plötzlicher Schneewind macht das Atmen schwer.
Das hätt ich auch tun sollen. Den hätt ich umbringen sollen!, sagt sie.
Aber Raskolnikow schüttelt den Kopf, sein Gesicht ist bleich und nackt und seine Augen sind geschlossen. Sein Schädel sieht aus wie ein Ei. Mit weißer, zerbrechlicher Schale.
Dann sagt er den Namen. Sonja. Darin liegt solche Wärme.
Du wärst vor die Hunde gegangen, wenn du die Sonja nich gehabt hättst, sagt sie fragend.
Er nickt und sie sieht, dass er am liebsten alles ungeschehen machen würde. Dass er sich zu viel aufgeladen hat.
Aber du hast es gewagt, meint sie. Du hast es getan! Danach muss man eben so eine haben wie die Sonja, damit man nich vor die Hunde geht, oder was?, fragt sie.
Er nickt mit seinem zerbrechlichen Kopf.
Ich will, dass du mein Bruder bist, Raskolnikow, sagt sie ganz offen und spürt den Druck seiner knochigen Hand.
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