Nun mag der Eindruck entstehen, dass dem Theoriedenken skeptisch gegenüber gestanden wird. Das ist nur in begrenzter Weise der Fall. Ohne Theoriedenken bleiben viele unserer wichtigen täglichen Fragen ungeklärt. Es gibt keine Alternative zum Theoriedenken, wenn wir danach streben, die Wirklichkeit als Ganzes zu verstehen. Unsere Skepsis bezieht sich auf das, was das Theoriedenken inspiriert und lenkt. Denken und Rationalität sind keine neutralen Orte, nicht autonom, sondern stehen in einer religiösen Abhängigkeit. Welchen Präsidenten sollte man nun wählen, wenn man wählen muss, sich aber die Richtigkeit der Wahl nicht objektiv beweisen lässt?
Es mag vielleicht primitiv klingen, aber die einzige Möglichkeit, die bleibt, ist das Experiment. Wenn es darum geht, die Wirklichkeit mit all ihren Phänomenen in einen sinnvollen, möglichst widerspruchslosen Zusammenhang zu bringen, muss geklärt werden, welcher Regent das am besten macht. Welcher Regent ist im Stande, die Widersprüche des Lebens sinnvoll zu integrieren, ohne sie zu ignorieren oder zu reduzieren? Welche Regenten bieten sich an? Wer oder was offenbart sich als Schöpfer unserer Wirklichkeit? Es wurde gezeigt, dass die verschiedenen, sich anbietenden Ismen keine idealen Regenten sind, da sie nicht gut die anderen Seins-Aspekte integrieren können (Subjektivismus und Objektivismus). Welcher Gott bringt alle anderen Gotteskandidaten zum Schweigen?
Markus, ein Geschichtslehrer aus Rotterdam, hat in seinem Leben viel experimentiert. In einer gewissen Weise ist sein Leben ein Labor. Er hat in seinem Leben schon so manche Regierungsauflösung miterlebt. So mancher Putsch und Staatsbankrott waren dabei. Aber heute kann er sagen, dass er schon seit einigen Jahren eine sehr vielversprechende Regierung im Amt hat, die sein Leben sinnvoll neu organisiert hat. Sein Leben gerät in einen immer sinnvolleren Zusammenhang. Er hatte bis dahin keine Regierung gefunden, die im Stande ist, das Dilemma von Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden. Jetzt fühlt sich in der Lage, wieder frei lieben zu können und das Leben immer mehr zu genießen. Er ist zufrieden mit dieser Regierung.
Fazit: Die zentrale Frage ist, welche Regierung dein Leben und deine Erfahrungen am besten erklärt. Mit welchem Gott lässt sich dein Leben am besten führen? Mit welchem Gott identifizierst du dich? Voraussetzung für eine gute Wahl ist darum auch eine gute Kenntnis von dir selbst.
In den nächsten Reflexionen werden wir sehen, wie die Wirklichkeit sinnvoll erklärt werden kann, wenn sich unser Theoriedenken vom Geist der Propheten inspirieren lässt. Dabei lassen sich der Subjektivismus und naturalistische Reduktionismen überwinden.
3.6 Klärung
Die Frage stellt sich, wo du dich in deinem Experimentierprozess befindest. Was ist dein Präsident im Stande zu tun? Stellt er dich zufrieden? Kann er dein Leben in einen sinnvollen Zusammenhang bringen? Welche Präsidenten hast du bereits ausprobiert? Warum hast du sie gewechselt? Der gerade erwähnte Markus betont, dass da, wo JHWH nicht die Gottesrolle übernimmt, das Leben nicht aus der modernen Objektivismus-Subjektivismus-Zwickmühle befreit werden kann. Dein Leben wird, wenn es bewusst gelebt wird, von Lethargie und fehlenden Idealen geprägt sein. Wenn du bereit bist für ein weiteres Experiment, deine Regierung dich verlassen hat oder du nach etwas Besserem Ausschau hältst, dann versuche es einmal, so wie der eben erwähnte Markus, mit dem Gott der Bibel: JHWH. Regierungen kann man abwählen – es besteht also keine Gefahr. Aber gib JHWH als Regent zumindest eine Legislaturperiode Zeit. Es besteht die Möglichkeit, dass das Land in dir sich dann bessern wird.
Aber bevor du mit JHWH in der Gottesrolle experimentierst, solltest du dir im Klaren darüber werden, wer du bist. Wie schon erwähnt: Nur wer sich kennt, kann sinnvoll den Gott identifizieren, der das eigene Leben erklärt. Und so bieten sich folgende Übungen an:
→ Finde heraus, wer dich regiert und wo du den Ursprung deines Lebens lokalisierst:
Was sagst du und was denkst du, wenn Bekannte dich fragen, wie die Welt entstanden ist?
Welche Funktion hat für dich die Tatsache, dass Menschen Kinder zeugen können?
Warum denkst du, dass Menschen sich verlieben? Was denkst du über die Ursachen für ihre Begründung, die sie fürs Verliebtsein geben? Wende die Frage auf dich selbst an.
Welche Perspektive auf die Zukunft der Weltgeschichte gibt dein Gott? Leben wir in einer Geschichte des Fortschritts, nähern wir uns einer Apokalypse, oder wiederholt sich die Geschichte in ewigen Kreisläufen? Woher kommt es, dass du so denkst wie du denkst?
Was sagt dein Gott über die Tatsache, dass jedes Lebewesen einmal stirbt? Ist Leben und Sterben ein normaler Prozess chemischer Reaktionen von Biomasse? Gibt es eine Reinkarnation? Überlebt die Seele den Tod?
Gibt es Mächte, die einige der oben genannten Fragen besser beantworten als andere? Welche Mächte kämpfen da um die Gottesrolle?
→ Wenn du weißt, welcher Gott bzw. welche Mächte sich in deinem Leben um die Gottesrolle bemühen, ist zu klären, ob diese Mächte wichtige Phänomene des Lebens sinnvoll erklären können. Ein paar beispielhafte Fragen sollen dir helfen:
Krankheiten und Epidemien bedrohen den Menschen und andere Lebewesen immer wieder. Warum?
Die Wissenschaft lässt unser Leben immer fortschrittlicher werden. Warum?
Babys, die genug Nahrung, Ruhe und Wärme bekommen, aber keinen menschlichen Kontakt erleben, sterben. Warum?
Können die Phänomene Tafelrücken und Pendeln naturwissenschaftlich erklärt werden? Warum?
Warum hast du deinen Beruf, dein Studium oder deine Ausbildung gewählt?
Wie passt die Tatsache des Holocaust in dein Wirklichkeitsverständnis?
→ Der Philosoph Charles Taylor hat in seinem Buch Sources of the Self deutlich gemacht, dass der moderne Mensch an verschiedene Götter gleichzeitig glaubt. Ansonsten würde sich nicht erklären lassen, dass ein Evolutionist sich auch gleichzeitig für Menschenrechte einsetzt. Kannst du diese Beobachtung auch an dir selber feststellen? Lies Kapitel 1 (»Inescapable Frameworks«) und Kapitel 25 (»Conclusion: The Conflicts of Modernity«) von Taylor, C. Sources of the Self: the making of the modern identity. Cambridge: Harvard University Press, 2006.
4 JENSEITS VON 1. UND 3. PERSON: JHWH AM ANFANG
Die Einheit der menschlichen Seinsweise, welche die Mannigfaltigkeit der unterschiedlichen Seinsarten, an denen sie teilhat, überbrückt, also die Überbrückung von Gegensätzen wie Soma und Psyche, werden wir vergebens in den Ebenen suchen, in die wir den Menschen projizierten. Vielmehr ist sie einzig und allein […] in der Dimension des spezifisch Humanen zu finden.
(Frankl, V. E. »Der Pluralismus der Wissenschaften und die Einheit des Menschen«. In Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn: Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, 20 – 29. München: Piper, 1998, 26.)
Literatur: Bibel: Genesis 1 - 2; »Enuma Elish the Epic of Creation«, n.d., http://www.sacred-texts.com/ane/stc/index.htm; Frankl, V. E. »Der Pluralismus der Wissenschaften und die Einheit des Menschen«. In Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn: Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, 20 – 29. München: Piper, 1998; Woudenberg van, R. Gelovend Denken: Inleiding Tot Een Christelijke Filosofie. Amsterdam, Kampen: Buijten & Schipperheijn; KoK, 2004.
4.1 Einleitung
In der ersten Reflexion wurde das zentrale Problem des modernen Menschen geklärt. Durch den