4. als sinnloser Schöpfer (Vers 28a): Der Auftrag, sich zu vermehren, ist auch der Auftrag, neue Menschen ins Leben zu rufen. Auch hier spiegelt der Mensch wieder in einem begrenzten Rahmen die Schöpferkraft Gottes. Und ähnlich wie die Schöpfung Gottes wird der Aufruf, sich zu vermehren und schöpferisch zu sein, nicht mit der Überwindung eines Problems verbunden. Der Sinn der Kinderzeugung wird nicht darin gesehen, dass dadurch mehr Dienstpersonal für die Götter entsteht (JHWH braucht keine Sklaven!), oder das Böse mit einer Mehrheit an guten Menschen überwunden werden kann (es gibt noch keine Sünde!), oder die Eltern damit in ihre Altenpflege oder den Fortbestand der Menschheit investieren (es gibt noch keinen Tod!). In diesem Sinne ist die Kinderzeugung »nutzlos«, aber genau in dieser Nutzlosigkeit, in diesem Überschuss liegt der Sinn des Lebens: Schöpfung aus Passion zum Schöpferischen. Das Geschaffene existiert in erster Linie, weil es gewollt und geliebt ist und nicht, weil es einen Nutzen oder Zweck erfüllt. Vom Blickwinkel unseres modernen Subjektivismus-Objektivismus-Dilemmas betrachtet, müssen wir sehen, dass in der Bibel ein bestimmter Bestandteil der Wirklichkeit durch schöpferische Individualität (Subjektivität) zu Stande kommt (z. B. Kulturen). Das Verhältnis des Menschen in Bezug auf Objektivität und Subjektivität könnte man mit einem Haus vergleichen, in das ein Bewohner einzieht. Das Haus ist der objektive Rahmen, den der Mensch nicht verändern kann, aber der es ermöglicht, dass er sein Leben beschützt und sinnvoll leben kann. Innerhalb dieses Hauses ist er völlig frei, seine eigene kreative und subjektive Einrichtungsvorstellung zu verwirklichen.
5. als Mitmensch (Vers 26 und 27): Neben den obigen vier Aspekten menschlichen Lebens ist der wichtigste noch nicht genannt. Dieser Aspekt dominiert den Bericht der Menschenschöpfung in Genesis 1, wird aber noch einmal gesondert in Genesis 2 volle Aufmerksamkeit finden. In Vers 26a erklärt der Text auf eine poetische Weise, dass der Mensch seinem Wesen nach plural und singulär zugleich ist. Leider wird das nicht in allen Übersetzungen deutlich. In Vers 26 heißt es, dass Gott »den« einen (Sg.) Menschen schaffen will, aber nicht »er« sondern »sie« sollen herrschen (Vers 26b). Woher kommt aber das »sie« (Pl.), wenn JHWH nur »ihn« (Sg.) gemacht hat? Die gleiche Spannung findet sich in Vers 27, wo JHWH »den« (Sg.) Menschen schafft, aber »ihn« (Sg.) als männlich und weiblich (Pl.) schafft. Der Text definiert klar, dass in der biblischen Schöpfung der Mensch an sich erst existiert, wenn zwei verschiedene Personen existieren (siehe Abb. 14). Der Mensch besteht immer erst, wenn er Mitmensch ist! Ich existiere immer erst dann, wenn mir ein Du gegenübergestellt ist. Und es ist gerade diese Wirklichkeit, mit der der Mensch zum Imago Dei, zum Abbild Gottes wird (siehe Vers 26a und 27a).
Ganz offensichtlich besteht JHWH in der gleichen Wesenhaftigkeit. Dies wird schon in Vers 26 angedeutet, wo Gottes Sprechen im Singular (»sprach«) angekündigt wird, das Sprechen selber aber im Plural stattfindet (»lasst uns«). Vers 27 führt diese Spannung weiter, indem es nicht mehr »unser Bild«/»lasst uns machen« (Pl.) sondern »sein Bild«/»er schuf« (Sg.) lautet. JHWH ist nicht nur der »Eine«, er ist auch der Gott, der immer nur im Bündnis Gott ist. Im Laufe der biblischen Geschichten kristallisiert sich diese Pluralität des einen Gottes immer stärker heraus und wird dann in der Kirchengeschichte technisch mit »Dreieinigkeit« beschrieben. Es ist dieser fünfte und letzte Aspekt, der als prophetische Antwort auf das moderne Dilemma zentral steht. Dem Menschen kann man nicht gerecht werden, wo man ihn ausschließlich aus der 1. Person-Perspektive (Subjektivismus) oder 3. Person-Perspektive (Objektivismus) beschreibt. Man kann den Menschen nicht völlig verstehen, wo man ihn nur in Abgrenzung zu absoluter Freiheit und absoluter Fremdbestimmung definiert. Was der Mensch ist, kann erst dann richtig verstanden werden, wo man ihn in der Begegnung mit dem »Du«, der 2. Person-Perspektive, betrachtet (siehe Abb. 15 und 16).
Um zu wissen, wer man selbst ist, braucht es immer eine Begegnung mit dem »Du«. Man mag den Menschen objektivistisch beschreiben (biologisch, soziologisch, psychologisch, religiös etc.), aber sein wahres Wesen und seine Individualität wird dabei immer übersehen werden.
Man mag den Menschen subjektivistisch verstehen (Relativismus), aber auch hier gerät sein wahres Wesen aus dem Blickfeld (siehe Abb. 17).
Erst da, wo das »Ich« einem »Du« begegnet, wird der Mensch ins Leben gerufen. Die Konsequenzen für das moderne Denken sind dabei immens und werden noch deutlicher werden.
4.3 Leben aus dem Du
Den Menschen über den Subjektivismus zu definieren und die Existenz der Wirklichkeit auf sein eigenes Vorstellungsvermögen zu reduzieren, wird im biblischen Schöpfungsbericht deutlich korrigiert. Wasser, Sonne, Fische, Vögel und natürlich JHWH existieren bereits vor dem Menschen. Aber der Mensch ist in bestimmten Grenzen frei, seine eigene Kreativität auszuleben und seiner Verantwortung individuell Gestalt zu geben.
Fazit: Subjektivität – Ja! Subjektivismus – Nein!
Den Menschen über den Objektivismus zu definieren, das Denken und Handeln des eigenen Lebens auf vorherbestimmende natürliche Prozesse zurückzuführen, wird ebenso im Schöpfungsbericht korrigiert. Der Mensch wird durch nichts anderes ins Leben gerufen als durch JHWH. JHWH, der ohne bedingt zu sein, aus freiem Willen eine »überflüssige« Schöpfungshandlung durchführt, will sein Spiegelbild im Menschen finden. Auch der Mensch soll im Kern frei von Vorherbestimmungen sein und als König und Herr seiner Kreativität eine eigene Richtung geben. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen JHWH und Mensch. Die Macht des Menschen kann nur innerhalb einer Begrenzung seine Möglichkeiten finden. Und bestimmte Elemente der Schöpfung wie Sonne und Mond, die den Tag und die Nacht bestimmen, werden auch das Leben des Menschen zu einer gewissen Weise mitbestimmen. Die Bewegungen von Sonne und Mond werden nicht durch den Menschen ferngesteuert. Der Mensch bleibt aber in seinem Wesen König und Herrscher. Und zwar in der Sphäre der Lebewesen (Vers 26b und 28), der Sphäre des »Du«.
Fazit: Objektivität – Ja! Objektivismus – Nein!
Diese Schlussfolgerung wird vor allem in Genesis 2 ganz plastisch dargestellt. Nach den knappen Worten zur Menschenschöpfung im ersten Kapitel der Bibel wirft Genesis 2 noch einmal ein genaueres Bild auf das, was bei der Menschenschöpfung eigentlich geschah. Genesis 2 erklärt, dass die Menschenschöpfung in einem bedeutungsvollen Schöpfungsprozess entstanden ist. Ohne ins Detail zu gehen, sind folgende Elemente des Berichtes wichtig:
1. Ohne Retter kein Leben (Vers 18 bis 20): Zuerst schafft Gott eine Person