Fazit: Theoriedenken und damit wissenschaftliches Denken sind weder objektiv noch neutral.
3.3 Auf der Suche nach dem Zusammenhang
Wir sehen jetzt, wie der moderne Mensch mit seinem Dilemma von Objektivismus und Subjektivismus nicht so sehr vom Denken an sich geprägt ist, sondern von einem ganz bestimmten Denken. Nicht das Alltagsdenken, sondern die Ergebnisse des Theoriedenkens sind sein Problem. Soll das heißen, dass wir nicht mehr theoretisch denken sollen, und dass alle wissenschaftlichen Disziplinen letztlich keinen unumstrittenen Beitrag zum Verständnis des Lebens liefern? Das wäre ein voreiliger Schluss. Vielmehr müssen wir uns fragen, wie es zu diesem Phänomen des Reduktionismus kommt. Warum wird der Zusammenhang abgegrenzter Seins-Aspekte immer nur durch einen spezifischen Reduktionismus sinnvoll erklärt? Kann man einen sinnvollen Zusammenhang nicht auch ohne Reduktionismus gestalten? Warum kommt es zu diesem modernen Götterstreit, gibt es nicht auch Wissenschaft ohne Götter?
Wie schon Max Weber in seiner berühmten Vorlesung »Wissenschaft als Beruf« erklärte, hat der moderne Götterstreit sehr viel mit dem antiken Götterstreit zu tun. Im Römerbrief beschreibt der Prophet und Apostel Paulus, dass der antike Götterstreit (Zeus/Jupiter, Aphrodite/Venus, Dionysos/Bacchus, etc.) nur zustande kam, weil die Menschen dem wahren und einzigen Gott JHWH nicht mehr vertrauten (Römer 1,18 - 25). Paulus argumentiert weiter, dass da, wo JHWH als Schöpfer abgelehnt wurde, die Menschen einen Gottersatz in den Gegenständen der Schöpfung suchten. Für uns moderne Menschen ist es schwer, sich mit diesem biblischen Vokabular anzufreunden. Unter dem Begriff »Gott« verstehen die Propheten jemanden, der die Wirklichkeit so, wie wir sie kennen, geschaffen hat. Er hat unsere Erde, den Kosmos, Naturgesetze, Tiere, Menschen, in einen sinnvollen Zusammenhang gestellt. Für die Propheten besteht ein ganz klarer Unterschied zwischen dem einen Schöpfer (Gott) und der Vielfalt der Schöpfung. Der Existenzgrund der Wirklichkeit als auch deren Einheit und Zusammenhang liegen in Gottes Tat der Schöpfung begründet.
Die Abbildung 11 zeigt, dass es beim Begriff Gott in der Bibel, genauso wie in der Wissenschaft und ihren verschiedenen Ismen, darum geht, die Welt in einem sinnvollen Zusammenhang zu verstehen. Passend zu unseren Beobachtungen betonen die Propheten im Alten Testament, als auch Paulus und andere im Neuen Testament, dass man JHWH als Gott ablehnen kann. Man kann aber nicht Gott als eine Idee ablehnen, die die Diversität der Wirklichkeit in einen Zusammenhang bringt und den Grund für die Existenz dieses Zusammenhangs gibt. D.h. unabhängig davon, was man glaubt, muss man an etwas glauben, das diese Gottesrolle einnimmt. Der Mensch kann nicht sinnvoll leben, ohne die Gottesrolle konkret auszufüllen. Die Propheten beobachten, dass da, wo man JHWH als wahren und einzigen Schöpfer nicht mit dieser Gottesrolle identifiziert, die Menschen irgendetwas anderes mit dieser Gottesrolle in Verbindung bringen. Da es aber für die Bibel außer JHWH keinen Schöpfer gibt, muss der antike Mensch einen Gegenstand der Schöpfung mit dieser Rolle bekleiden. Und so wird die Sonne, die ja in der Bibel durch JHWH geschaffen wird, auf einmal in heidnischen Kulturen (z. B. Ägypten) selbst als Schöpfer der Wirklichkeit gesehen. Über die Sonne kann dann der Mensch die Vielfalt des Lebens erklären. Die Sonne gibt Wärme, lässt Pflanzen wachsen, reguliert die Zeiten und lässt Wasser verdunsten, sodass es regnet. Mit Hilfe der Sonne kann der innere Zusammenhang der Welt logisch erklärt werden (siehe Abb. 12).
Aber genauso wie die Sonne könnte ja auch der Berg den Zusammenhang der Wirklichkeit erklären (z. B. wie es die Bewohner Kanaans taten). Aus dem Berg kommen die Flüsse, die die Pflanzen wachsen lassen; der Berg bestimmt Wetter und Winde, von ihm erhält die Sonne in den Blitzen des Unwetters ihr Licht, usw. Weil die Menschen der Antike noch nicht so stark vom Theoriedenken, sondern vom Alltagsdenken geprägt waren, haben sie Gegenstände mit der Gottesrolle identifiziert. Heute findet das gleiche Phänomen statt, nur dass mit der Gottesrolle nicht mehr Gegenstände wie ein Berg, der Adler oder die Sonne in Verbindung gebracht werden, sondern bestimmte natürliche Gesetzmäßigkeiten, die sich in Gegenständen finden lassen.
Fazit: Der Berg ist durch die Genetik, der Adler durch die verhaltenspsychologische Konditionierung und die Sonne durch die Gesetze der Atomphysik ausgetauscht worden. In diesem Zusammenhang spricht dann Weber auch von der Auferstehung der alten Götter in neuem Gewand.
3.4 Präsident und Regierungsamt: Die Präsidentenwahl
Im Sinne der Propheten ist der atheistische Evolutionist genauso gottgläubig wie der Moslem oder Christ. Alle denken mit Hilfe der Gottesrolle. Während der Evolutionist an Zufall, Zeit und Selektion als Schöpfer der Wirklichkeit glaubt, glaubt der Moslem an Allah und der Jude und Christ an JHWH als Schöpfer der Wirklichkeit. Es geht beim Begriff Gott also um eine Funktion oder Rolle, nicht um eine konkrete Gottesidee. Gott ist also nicht so sehr der Präsident der Wirklichkeit, sondern das Regierungsamt für die Wirklichkeit. In der Bibel werden mit dem Wort Gott (Elohim) darum auch verschiedene Personen und Wesen in Verbindung gebracht. Während die Israeliten an JHWH als Gott glauben, glauben die Kanaanäer an Baal und die Ägypter an Aton als Gott. Wer das Regierungsamt innehat, kann also je nach Person/Glauben unterschiedlich sein. Den Regenten kann man wählen, z. B. das Evolutionsprinzip (time and chance), JHWH (persönlicher Gott in der Bibel) oder Aton.
Wenn nach der Analyse und der Isolierung eines Seins-Aspektes von anderen Seins-Aspekten wieder der Zusammenhang der Seins-Aspekte nach einem Ordnungsprinzip gesucht werden muss (Synthese), dann entscheidet sich, welchem Gott man glaubt. Ohne Gott geht es nicht, da sonst keine Synthese und damit kein sinnvoller Zusammenhang der Wirklichkeit besteht. Ohne Ordnungsprinzip leben wir in einer zusammenhangslosen und damit sinnlosen Welt. Der Mensch muss darum immer seine Regierung wählen. Die kritische Frage für das Theoriedenken ist dann, welches Prinzip zum Gott erhoben wird, um einen sinnvollen Zusammenhang entstehen zu lassen.
Fazit: Ohne Regierungsamt kann man die Welt nicht sinnvoll organisieren (Synthese).
Interessanterweise behaupten die Propheten, dass überall, wo ich einen Gegenstand oder Seins-Aspekt der Schöpfung zum Gott als oberstes Ordnungsprinzip oder Regenten mache (z. B. physikalische Prozesse und Gesetzmäßigkeiten), ich automatisch einen Gegengott erzeuge, der gegen das Primat des einen Gottes ankämpft (z. B. sensorische/psychische Gesetzmäßigkeiten vs. biotische Gesetzmäßigkeiten). Es wurde schon erläutert, dass da, wo man die Sonne zum Gott macht, mit der gleichen Selbstverständlichkeit der Berg zum Gott gemacht werden könnte. Je nachdem bestimmt die Sonne oder der Berg die Wirklichkeit. Genaus so verhält es sich in der modernen Welt auch. Wo ich biologische Gesetzmäßigkeiten zum Gott mache, bieten sich die physikalischen Gesetzmäßigkeiten genauso als Gott an. Beide »Präsidenten« können die Welt in einem sinnvollen Zusammenhang erklären. Dieser Götterstreit zeigt sich am praktischen Beispiel von Alexandra (Reflexion 1), die auf der einen Seite versucht, die Welt über den Physikalismus (Objektivismus) in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, aber ihre Welterklärung zugleich kompromittiert, indem sie dem Subjektivismus auch Raum gibt, um ihr Verliebtsein in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Dieser Dualismus ist typisch für den modernen Menschen.
Die Propheten behaupten immer wieder aufs Neue, dass da, wo man JHWH als Gott versteht, aller Dualismus ein Ende findet und der ewige Götterstreit zum Erliegen gebracht wird. Wer aber ist JHWH, und wie erklärt sich unsere Wirklichkeit über ihn in sinnvollem Zusammenhang? Das sind Fragen, die geklärt werden müssen.
3.5 Imago dei: Wer ist mein Gott?
Wir haben nun gesehen, dass modernistisches Theoriedenken nicht zur objektiven Wahrheit, sondern immer nur zu einer