Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren. Oliver Glanz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Glanz
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783815026182
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das Leben zwischen den Dogmen sich auf die eigene Existenz sinnentleerend auswirkt. Ein Leben mit wirklicher Überzeugung und Orientierung kann der moderne Mensch nicht leben. Was bleibt, ist Lethargie als Grundstimmung. Es mag seltsam erscheinen, aber unsere Opferrolle ist zum großen Teil selbstgemacht. Zwar haben nicht wir das Problem erzeugt, aber die Grundlagen für die Entstehung dieser modernen Sackgasse sind durch unsere Vorfahren vor ungefähr 400 Jahren gelegt worden. Und weil wir als moderne, fortschrittsliebende Menschen lieber vorausschauen, als in die primitive Vergangenheit blicken, wissen wir oft nicht mehr, warum wir heute so denken wie wir denken.

      Und so müssen wir uns die historische Frage stellen, wie die Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus entstanden ist. Nur so werden wir unser Dilemma verstehen. Und nur dann kann in den weiteren Reflexionen sichtbar werden, wie die biblischen Schriften mit ihren Propheten eine überzeugende Gegenposition zum philosophischen Dilemma unserer modernen Zeit entwerfen.

      In der folgenden Reflexion wird versucht, den Ursprung der Zwickmühle zu verstehen und die Gedanken der Vorfahren zu begreifen. Danach wird das menschliche Denken kritisch hinterfragt (Reflexion 3). In den Reflexionen 4 bis 6 wird der biblische Gegenentwurf der Propheten aufgezeigt.

      1.5 Klärung

      Wir haben gesehen, dass Subjektivismus und Objektivismus als Dogmen bei allen modernen Menschen als Basis für Denken, Handeln und Entscheiden funktionieren. In den meisten Fällen operieren diese Dogmen im Unterbewusstsein. Dabei lassen sie eine sinnentleerte Atmosphäre im Leben des modernen Menschen entstehen. Es ist darum wichtig, sich bewusst zu werden, wo und wie diese Dogmen im eigenen Denken und Fühlen anwesend sind.

      Die folgenden Aufgaben sollen helfen, Spuren des Subjektivismus und Objektivismus im eigenen Leben und Lebenskontext aufzuspüren.

      → Untersuche, wo sich in deinem täglichen sozialen Kontext (Schule, Universität, Arbeitsplatz) Hinweise auf Subjektivismus und Objektivismus finden lassen. Du entdeckst diese Hinweise meist in Gesprächen, in denen unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen.

      →Wie wird in deinem Freundeskreis das Verhältnis zwischen Evolutionismus (Objektivismus) und persönlicher Freiheit und Vorstellungskraft (Subjektivismus) verstanden? Ist die Freiheit und Vorstellungskraft das Ergebnis der Evolution oder ist die Evolutionstheorie das Ergebnis menschlicher Vorstellungskraft? Oder gibt es sogar eine dritte Möglichkeit?

      →Lies zur Vertiefung Alvin Plantingas »On Christian Scholarship«. (http://www.calvin.edu/​academic/​philosophy/​virtual_library/​articles/​plantinga_alvin/​on_christian_scholarship.pdf)

      → Schaue dir einen der folgenden Filme an und erörtere, wie sich in diesem Film das Verhältnis zwischen Subjektivismus und Objektivismus darstellt: A beautiful mind, Matrix, Inception.

       Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein.

      (Weber, M. »Wissenschaft als Beruf (1919)«. In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, edited by Winckelmann, J., 582 – 613. 6th ed. Tübingen: Mohr Siebeck, 1985, 502)

      Literatur: Kaufmann, W. A. Critique of Religion and Philosophy. Princeton: Princeton University Press, 1978; Nagel, T. »What Is It Like to Be a Bat?« The Philosophical Review 83, no. 4 (1974): 435 – 450; Randall, J. H. The Making of the Modern Mind: a Survey of the Intellectual Background of the Present Age. Boston, New York: Houghton Mifflin, 1926; Taylor, C. Sources of the Self: The Making of the Modern Identity. Cambridge: Harvard University Press, 2006.

      2.1 Einleitung: Gegenwart nicht ohne Vergangenheit

      In der letzten Reflexion wurde gezeigt, wie sich die modernen Dogmen von Subjektivismus und Objektivismus sinnentleerend auf den Menschen auswirken. Dennoch werden sie in einer gewissen Weise von jedem geglaubt und dominieren den Alltag meist unbemerkt. Die vorgeschlagenen Aufgaben zur Selbstreflexion und zur Beobachtung haben den Einfluss dieser zwei Dogmen auf das eigene Leben vielleicht noch stärker bewusst gemacht. Ich hatte allerdings darauf verwiesen, dass die Grundlagen für diese Zwickmühle selbst erzeugt sind – zwar nicht von uns, aber von unseren Vorfahren. In dieser Reflexion wird versucht zu verstehen, wie eine vergangene Generation der Konstrukteur der modernen Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus wurde. Danach lassen sich die Schriften des biblischen Prophetentums als sinnvoller Gegenentwurf begreifen.

      2.2 Cogito Ergo Sum

      In der Schule haben die meisten gelernt, dass Descartes’ Satz »cogito ergo sum« (Ich denke, also bin ich.) gewissermaßen das Fundament der Moderne gelegt hat. Warum? Descartes hatte ein abenteuerliches und von vielen Unsicherheiten geprägtes Leben. In seiner Zeit entstanden die Nationalstaaten im Trubel politischer Unsicherheit; die Spaltung der Großkirche und des Protestantismus fanden statt und riefen eine religiöse Unsicherheit hervor. Durch Entdeckungen von Wissenschaftlern wie Kepler und Kopernikus entstand eine metaphysische Unsicherheit, deren Hauptfrage war: Was ist Realität?

      Als Söldner kämpfte er am Anfang des Dreißigjährigen Krieges mal für die Protestanten (Fürst Moritz von Nassau), mal für die Katholiken (Maximilian von Bayern). Descartes sah Tausende ermordete Menschen in Dörfern, Städten und auf Feldern, nur weil sie aus der Sicht der Protestanten nicht an die biblische Wahrheit glaubten. Auf der anderen Seite ermordeten Katholiken mit ganz ähnlicher Begründung Protestanten, um die christliche Wahrheit zu verteidigen. Mord wegen unterschiedlicher Auffassungen von Wahrheit! Neben dem Kriegsgeschehen tat sich in Europa aber noch mehr. Viele Ansichten, die man damals über die Natur und den Kosmos landläufig hatte, wurden durch die Entdeckungen von Kopernikus, Huygens, Kepler und Galileo Galilei überholt. Die Erde war nicht mehr Mittelpunkt des Universums (geozentrisches Weltbild), sondern die Sonne (heliozentrisches Weltbild). Zumindest deuteten darauf alle wissenschaftlichen Berechnungen. Für den wissbegierigen Descartes stellte die Nachricht darüber, dass Galileo Galilei von den Inquisitoren zur Widerrufung seiner Thesen aufgerufen wurde, eine endgültige Kehrtwende dar. Für ihn entstand die zentrale Frage: Wer hat die Autorität, sagen zu können, was Wahrheit und Wirklichkeit sind? Der Papst, Kepler oder Luther? Wann kann ein Mensch überhaupt Gewissheit darüber haben, dass sein Glaube von der Wahrheit handelt und nicht von einer Illusion? Wenn das, wofür man im Dreißigjährigen Krieg kämpfte, am Ende nur Illusion und nicht Wahrheit war, dann war noch weniger zu rechtfertigen, dass man wegen »der Wahrheit« halb Europa tötete. Wie jeder in der damaligen Zeit war Descartes gläubig und fest davon überzeugt, dass es die eine alleingültige Wahrheit gibt. Aber wenn ganz Europa sich nicht einig darüber sein kann, was die Wahrheit ist, dann scheint zumindest halb Europa einer Illusion zu glauben und sich getäuscht zu haben. Und so fand Descartes sehr schnell den Gegenstand seines kritischen Nachdenkens: Täuschung. In seinen Meditationen (Meditationes de prima philosophia) untersucht er, worin man als Mensch überall getäuscht werden kann. Freunde können einen täuschen, Gefühle können einen täuschen. Es ist gerade des Teufels Expertise, jeden einzelnen Menschen zu täuschen. Aber Descartes ist kein Pessimist. Er glaubt daran, dass absolute Gewissheit, die jegliche Täuschung überwindet, zu erreichen ist. In seinen Meditationen kommt er zum Schluss, dass das einzige, was uns von jeglicher Täuschung bewahrt, das unabhängige Denken, die neutrale Rationalität sei. Mit seinem Satz »cogito ergo sum« will er somit sagen, dass das, was den Menschen im Innersten ausmacht, seine Fähigkeit ist, rational in Unabhängigkeit zu denken. Menschen lassen sich irreführen, weil sie nicht in Unabhängigkeit denken. Wer alle Regeln der Logik anwendet und sich nur von ihnen leiten lässt, wird die Wahrheit entdecken – unabhängig von Papst, Luther oder Kepler! Gerade erst im Schulterschluss von persönlicher Unabhängigkeit (Neutralität) und Ratio (Vernunft) lässt sich Wahrheit finden.

      2.3 Hinwendung