Am nächsten Tag schrieb sie einen Brief an die Eltern. Sie werde das Studium aufgeben und heiraten. Wilhelm Dahlhaus sei ein tüchtiger Mann, der schon bald in den höheren Schuldienst treten werde und somit eine Familie ernähren könne. Wenn es ihm gelänge, eine Stelle in Berlin zu bekommen, würden sie sehr gerne das Angebot annehmen und das Jugendstilhaus bewohnen. Und außerdem sei sie schwanger.
Letzteres war zwar noch ungewiss, aber Edda hatte die feste Absicht, es in ganz kurzer Zeit zu sein, und ob sie es nun eine Woche vorher oder hinterher den Eltern verkündete, wer wollte sie dafür tadeln. Als Karl Franke den Brief gelesen hatte, war er zufrieden.
»Na Gott sei Dank! Nun wird doch noch alles gut.«
Und so kam es dann auch. Wilhelm Dahlhaus machte sein Examen und erhielt eine Stelle an einem Berliner Gymnasium. Edda brach ihr Studium ab. Sie heirateten und zogen in das freigeklagte Haus in Dahlem. Edda bekam einen gesunden Sohn, Kurt, und war mit ihren neuen Pflichten als Mutter und Hausfrau voll beschäftigt und zufrieden.
Wilhelm Dahlhaus stammte aus einer Lehrerfamilie. Sein Vater, ein Dorfschullehrer in Thüringen, war als technisches Genie mit einem Hang zum Sonderling über sein Dorf hinaus berühmt. Seine Schüler erinnerten sich in späteren Jahren gerne noch an seine physikalischen und chemischen Experimente, die mancher Experimentalvorlesung einer Universität gut angestanden hätten, aber nicht immer ganz ungefährlich waren und keinesfalls dem Stoffplan einer Dorfschule entsprachen. Aber sie waren eindrucksvoll, und die Kinder gingen mit Freuden zur Schule.
An kalten Wintertagen, wenn in den anderen Klassenräumen die Schüler beim Unterrichtsbeginn in Mänteln und Schals gehüllt saßen, mit den Holzschuhen klapperten und darauf warteten, dass der eben gezündete Kanonenofen endlich Wärme verbreitete, war es in Lehrer Dahlhausens Klassenraum schon lange warm. Er hatte einen alten Wecker umfunktioniert zu einem Zeitzünder, der über eine Zündschnur den am Abend vorher präparierten Ofen weit vor Unterrichtsbeginn anheizte.
Jeder, der diese Dorfschule besuchte, besaß eine als Camera lucida bekannte, unter Anleitung des Lehrers selbst gebastelte Vorrichtung zum Nachzeichnen von Gegenständen in der Natur. Das ganze Dorfleben Thüringens gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, soweit es sich um unbewegliche Gegenstände handelte oder um Objekte, welche sich für die Dauer des Nachzeichnens zur Bewegungslosigkeit befehlen ließen, wurde so in unzähligen Zeichnungen festgehalten.
Als junger Ehemann besaß Wilhelm noch eine ansehnliche Zahl solcher kolorierter Pergamentblätter, die sein Vater vom Schulleben, von seiner Familie und von der neben der Schule von ihnen betriebenen kleinen Landwirtschaft angefertigt hatte. Dabei war es auffallend, dass der Hersteller der Zeichnungen aus dem dörflichen Wirtschaftsleben natürlich nicht darauf zu sehen war, aber immer seine Frau bei den verschiedenen Feld- und Stallarbeiten.
Noch vor Ausbruch des Krieges starb Wilhelms Vater an einem Magenleiden. Wilhelm war erst zwölf Jahre alt und litt sehr unter dem Verlust. Er verdankte dem Vater viel, so auch die Liebe zur Fotografie. Die unter Anleitung des Vaters gebastelte Camera obscura bewahrte er bis zu seiner Verhaftung auf. Drei Jahre nach der Geburt ihres Sohnes bekamen Edda und Wilhelm eine kleine Tochter; sie nannten sie Sophie. Edda war nun mit ihrem Leben zufrieden. Sie hatte zwei gesunde Kinder, einen Mann, der sie liebte und den sie lieben wollte, und ein Haus in Dahlem, das sie nach ihren Vorstellungen ausstattete.
Wilhelm richtete sich in dem Haus ein Fotolabor ein, und wenn seine Pflichten als Familienvater und Lehrer es zuließen, entwickelte er dort Porträts von seiner Frau und den Kindern, aber auch Bilder vom stark wachsenden Berlin. Den Abriss mancher Altberliner Idylle und das Werden vieler technischer Bauten, die nach der Eingemeindung der Randstädte notwendig waren, hielt er in Bildern fest.
Edda zeigte Verständnis für das Steckenpferd ihres Mannes, ja sie war selber an allem interessiert, was das Wachsen der neuen Stadt Groß-Berlin ausmachte. Seit sie die Interessen ihres Mannes näher kannte, fand sie ihn mehr und mehr liebenswert. Sie konnte ja nicht ahnen, dass gerade sein Hobby ihm den frühen Tod durch den Henker bringen sowie ihr Leben und das ihrer Kinder völlig verändern sollte.
Sophie gestand Philipp, dass sie Schwierigkeiten in Chemie und Physik habe und bat ihn um Nachhilfe. Philipp musste an die spöttischen Bemerkungen von Christian denken und lehnte ab.
»Ich habe selber Schwierigkeiten; in Geschichte bin ich besonders schlecht.«
»Aber da kann ich doch helfen. Helfen wir uns zusammen.«
»Gegenseitig, sagt man, nicht zusammen«, verbesserte er. »Aber du verstehst mich falsch, nicht das Lernen fällt mir schwer, nur manchmal das Glauben.«
»Wie, das Glauben?«, fragte sie erstaunt. »Du musst nicht glauben, Geschichte ist doch eine Wissenschaft. Stalin hat schon 1938 in seiner Arbeit über den Historischen Materialismus geschrieben, dass es in der Gesellschaft sich verhält wie mit den Gesetzen in der Natur.«
»Schön, wenn es so einfach wäre!«
»Aber es ist so einfach! Stalin schreibt von dem Beispiel mit dem Wasser, das bei Temperaturerhöhung, wenn es kocht, sich plötzlich in Dampf verwandelt. Quantität schlägt um in eine neue Qualität. Und so ist es genau in der Gesellschaft. Im Kapitalismus wird das Proletariat immer stärker, und mit der Revolution kommt eine neue Gesellschaft, kommt der Sozialismus.«
»Ich glaube, dein Genosse Stalin hat genau wie du Schwierigkeiten in Physik. Das Beispiel ist so was von falsch!«
»Dann erklär mir, warum!«
So kam es, dass Philipp ihr doch noch Nachhilfe gab. Sophie meinte, dass er zu ihr aufs Zimmer kommen könne. Sie wohne bei einem älteren Ehepaar, Kommunisten und Bekannte ihrer Mutter aus der Zeit der illegalen Arbeit, die erlaubten das.
»Komm am Sonntag«, sagte sie. »Ich habe noch etwas Mehl und Salz, hat mir die Mutti geschenkt. Das Mehl röste ich, und daraus mache ich uns eine Suppe.«
Eine Suppe am Sonntag, das war Philipp einen Besuch wert. Er konnte schlecht haushalten und hatte sich angewöhnt, am Beginn einer Dekade die Lebensmittelmarken immer gleich auszugeben. Das bedeutete, dass er von der letzten Suppenausgabe in der VA am Freitag bis zur nächsten am Montag von Leitungswasser leben musste.
Am zweiten Sonntag gingen sie nach der Suppe zusammen ins Bett. Sophie lag auf dem Rücken und ließ es geschehen. Sie lächelte Philipp freundlich an, zeigte aber sonst keine Gefühle. Nach einiger Zeit unterbrach sie die Stille.
»Ich habe jetzt genug, wenn du aber willst, kannst du ruhig noch weitermachen.«
Philipp stieg ab und setzte auch den Nachhilfeunterricht nicht fort.
4
Der Winter wurde kalt. Um abends einschlafen zu können, wickelte Philipp sich das seitenstarke »Neue Deutschland« um die Füße. Gegen Mitternacht aber wurde er regelmäßig wach. Die Geräusche der tieffliegenden Luftbrückenmaschinen, die in Minutenabständen zur Landung in Tempelhof ansetzten, und die Wärme des Ofens unterbrachen seinen Schlaf. Er musste lernen, dass der große Kachelofen nach dem Anheizen Stunden zum Sammeln der Wärme brauchte, um diese dann viel später abzustrahlen. Die Wirtin bot sich an, gegen einen Mietaufpreis den Ofen schon vorher anzuheizen. Das aber konnte Philipp sich nicht leisten. Er musste mit dem Geld, aber auch mit seiner knappen Brikettzuteilung haushalten. Der Erfolg war am Abend ein kaltes und spät in der Nacht ein überheiztes Zimmer. Die Zeitung und das Federbett, zur Einschlafzeit sehr nötig, waren ab Mitternacht überflüssig.
Christian erzählte, dass er seit einigen Tagen seine Schularbeiten im Haus der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion machte, und riet Philipp, den