Eine ganze Weile geschah nichts weiter. Die Menschen starrten vor sich hin und schwiegen oder redeten leise miteinander. Es roch nach Harz und nach Pilzen. Zwei Sowjetsoldaten kamen mit einer jungen Frau, die einen kleinen Rucksack trug und sich auch zu den anderen setzen musste.
Die beiden Soldaten sprachen Russisch mit dem Posten und gingen bald wieder. Die junge Frau flüsterte mit einigen der anderen Wartenden. Philipp fiel ihr schönes, aber verschmutztes Gesicht auf. Als sie seinen Blick bemerkte, rutschte sie näher zu ihm hin und sprach ihn an.
»Wenn wir verhört werden, kann ich dann sagen, dass ich zu Ihnen gehöre?«
»Warum?«, fragte Philipp zurück.
»Ich habe Angst vor den Russen«, flüsterte sie.
Er versuchte sie zu beruhigen.
»Wir sind nicht mehr im Krieg mit ihnen; sie tun nur ihre Pflicht. Haben Sie darum ein so beschmutztes Gesicht?«
»Ja.«
»Glauben Sie denn wirklich, dass das hilft? Ich kann mir gut Ihr Gesicht gewaschen vorstellen. Aber wenn es Sie beruhigt: Wir gehören zusammen.«
»Danke«, sagte die Frau.
Trotz ihrer Angst zeigte sie dabei ein so wunderschönes Lächeln, dass Philipp ganz vergaß, in welcher Lage er selber war. Sie berichtete ihm, dass sie heute zum ersten Mal Russen sehe und dass sie nach Leipzig wolle, um ihren Verlobten zu besuchen. Und dann erzählte sie die Geschichte ihrer Liebe: Schon als Kind habe sie für einen drei Jahre älteren Nachbarjungen geschwärmt. Als der dann mit siebzehn Jahren Soldat wurde, in Russland kämpfte und dort in Gefangenschaft geriet, habe sie oft für ihn gebetet. Es habe geholfen. Vor einem Jahr, nach zwei Jahren Gefangenschaft, sei er endlich heimgekehrt. Alles wurde gut. Sie verliebten sich ineinander und verlobten sich. Er begann ein Ingenieurstudium, und sie studierte Musikwissenschaft. Ihr Vater, ein angesehener Anwalt in Münster, und ihre Mutter, eine ausgebildete Klavierlehrerin, akzeptierten ihre Wahl. Seine Eltern, Inhaber eines seit der Währungsreform wieder gut gehenden Konfektionsgeschäftes, liebten ihre künftige Schwiegertochter. Und dann sei ihr Verlobter vor einer Woche in die Ostzone gefahren. Aus Leipzig habe sie vor zwei Tagen einen Brief bekommen, in dem er sie um Vergebung bat. Er besuche dort ein Priesterseminar und komme nicht zurück in den Westen. Bete für mich, habe er geschrieben.
»Und an allem sind die Russen schuld!«, seufzte sie verzweifelt und klimperte dabei mit den langen Wimpern. Philipp wollte noch antworten, dass die Russen wohl kaum daran interessiert sein werden, in ihrer Zone möglichst viele Priester zu haben, aber da sah er, dass zwei ostdeutsche Polizisten auf die Gruppe zukamen.
»Wir müssen uns duzen. Wie heißen Sie, du?«
»Eva.«
»Philipp«, sagte er. »Wisch dir den Schmutz aus dem Gesicht!«
Da waren die Polizisten schon bei ihnen. Alle mussten ihr Gepäck aufnehmen und auf der Autobahn Richtung Marienborn gehen. Ein Polizist ging voraus, der zweite hinterher. Eva trug das Federbett, indem sie den Sack mit beiden Armen umschlang und an ihren Busen drückte.
Philipp wunderte sich, dass keine Autos auf der Autobahn waren. Aber dann erinnerte er sich daran, gehört zu haben, dass die Sowjets ja schon seit über drei Monaten alle Zufahrten nach Westberlin blockiert hielten.
Der Weg war lang. Die Koffer wurden immer schwerer, Philipp musste sie öfter abstellen. Eva und er bildeten bald das Ende der Gruppe. Bei der nächsten Rast wurde der hinter ihnen gehende Polizist ungeduldig.
»Da sind wohl Steine drin?«
»Bücher«, sagte Philipp.
»Schmeiß doch den Kram in den Graben, dann geht’s schneller!«
Volkspolizei, die Polizei gegen das Volk, dachte Philipp und schleppte sich und die Koffer weiter. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht und in die Augen. Eva aber ging leichtfüßig an seiner Seite und redete unentwegt von ihren Plänen, von ihrer Fahrt bis hierher und von ihrer Heimatstadt Münster.
Sie will wohl ihre Angst vertreiben, vermutete Philipp. Als Letzte erreichten beide Marienborn und die Schule, in der die Gruppe in einen Klassenraum geführt und eingeschlossen wurde. Eva und Philipp ließen sich gleich hinter der Tür auf ihrem Gepäck nieder. Bald schon öffnete sich die Tür wieder.
»He, Bücherwurm, komm!«, sagte der Polizist und deutete auf Philipp.
»Kann meine Braut mitkommen?«
Wie leicht ich »meine Braut« sagen kann, dachte er.
»Meinetwegen, los, los!«
Sie wurden in einen kleineren Raum und vor den Schreibtisch eines sowjetischen Offiziers geführt. An der Wand hinter dem Schreibtisch befand sich eine rote Fahne und daneben hing ein Bild, auf dem Stalin an ihnen vorbei in die Ferne schaute. Philipp zeigte seine Papiere. Der Offizier warf einen kurzen Blick darauf.
»Was Sie wollen hier? Fahren nach Berlin! Gutt Reise!«
»Darf meine Braut auch mitkommen?«
»Bitte Papiere!«
Eva reichte ihm ihren Personalausweis.
»Mehr Papiere!«
»Mehr hab ich nicht.«
»Sie nicht mehr Papiere, dann zuruck nach − er schaute in ihren Ausweis − Muuunster.«
»Nein!«, rief Eva. »Ich lasse dich nicht allein fahren, nein, nein!«
Und damit umschlang sie Philipp mit beiden Armen, so wie sie vorher den Sack mit dem Federbett umschlungen hatte. Sie küsste ihm die Wangen, die Stirn, die Augen, den Mund und den Hals.
»Verlass mich nicht, Liebster, Bester, mein Schatz, nimm mich mit, bitte, bitte!«
Philipp spürte ihren Busen, ihren warmen Körper, war überwältigt und einen Moment wie gelähmt von so viel Zärtlichkeit, fand aber bald Gefallen daran und küsste zurück. Die beiden Männer schauten amüsiert zu. Endlich unterbrach der Offizier diesen Ausbruch von Leidenschaft und grinste.
»Dann muss wohl gehen Liebster auch nach Westen wieder.«
Damit gab er dem Polizisten ein Zeichen, dass für ihn die Angelegenheit erledigt sei. Der Polizist schob das Paar in den Flur, schloss die Tür zu einem weiteren Klassenraum auf und drängte zu einer Entscheidung.
»Was denn nun? Wenn Sie beide zurück wollen, dann hopp, hier hinein!«
Philipp machte einen Schritt rückwärts. Eva versuchte noch einmal das Sackumklammerungsverfahren, küsste Philipp stürmisch und bat mitgenommen zu werden. Als sie aber das ungerührte Gesicht des Polizisten sah, änderte sie ihr Verhalten.
»Dann komm mit zurück!«, sagte sie und versuchte Philipp durch die geöffnete Tür zu ziehen. Erschrocken wich er weiter zurück.
»Bist du verrückt!«
Er hatte plötzlich kein Verlangen mehr nach ihren falschen Küssen. Da schubste sie ihn von sich, nahm ihren Rucksack und ging stolz und schön auf den geöffneten Raum zu.
»Auf Wiedersehen!«, rief Philipp ihr hinterher.
Eva aber antwortete nicht, machte, ohne sich noch einmal umzudrehen, eine wegwerfende Handbewegung und verschwand hinter der Tür. Der Polizist schloss ab und schüttelte den Kopf.
»Weiber, da soll sich einer auskennen!«
»Ja«, stimmte Philipp zu, »da soll sich einer auskennen.«
An diesem Tag kam Philipp bis Magdeburg. Wieder war es fast Mitternacht, als er den Wartesaal betrat. Überall saßen, hockten und lagen Menschen,