Gesang der Lerchen. Otto Sindram. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Sindram
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783927708464
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      Anders als erwartet und von der Vertreibung aus Krakau abgesehen, hat sich damit Marias im kalten Januar des Jahres 1945 auf der Flucht aus Polen getaner Schwur schon nach einem Jahr erfüllt. Damals hatten sie und ihr Sohn in der Nähe von Cottbus frierend und halbverhungert dabeigestanden und zugesehen, wie junge Männer in der Uniform des Reichsarbeitsdienstes mit Hacken und Schaufeln die hartgefrorene Erde aufbrachen, Marias wenige Monate alt gewordene, erfrorene Tochter aus dem Handwagen nahmen, in die kalte Erde legten und das kleine Grab zuschaufelten.

      Nie wieder frieren, nie wieder hungern, nie wieder fliehen, hatte sie sich da geschworen. Am Grabe ihres Säuglings, der ihr von der Liebe zu einem deutschen Besatzungsoffizier geblieben war, dem Elternhaus und ihrer Mutter in Potsdam schon näher als dem Anfang ihres Fluchtweges, fasste sie einen Entschluss.

      »Komm!«, sagte sie zu ihrem Sohn, nahm die Deichsel auf, wendete den Handwagen und fuhr zurück, der nahenden Front und dem Flüchtlingsstrom entgegen.

      Sie war entschlossen, sich mit den Siegenden zu arrangieren. Ihr Sohn folgte widerspruchslos. Er hoffte, in Krakau und in ihrem Haus mit dem großen Garten ein Leben führen zu können wie vor der Flucht, wollte Fußball spielen, schwimmen, Klavierunterricht nehmen und weiterhin das Lyzeum besuchen.

      Christian mochte die Menschen nicht, die wie er in der Molkerei ihrer Arbeit nachgingen. Ihre Witze auf Kosten Schwächerer waren ihm zuwider. Er wusste aber, dass er mit dem, was er neben dem Lohn in beinahe wertlosem Geld heimbrachte, das zu Hause geführte Leben erst ermöglichte und daher nicht einfach aufhören konnte. Die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten reichten nicht zum Leben. Über zwei Jahre ließ ihn diese Einsicht in der Molkerei ausharren, dann änderte sich die Situation in der Familie.

      Maria hatte gleich nach ihrer Vertreibung aus Polen im Hause von Sasse das Regiment übernommen. Frau von Sasse war ihrer Tochter dankbar dafür, denn seit dem Tode ihres Mannes fehlte ihr der Lebensmut. Zuerst entließ Maria das Hausmädchen Trude, denn in einer solchen Notzeit, so fand sie, bedeutete ein Esser weniger am Tisch schon viel. Danach bewarb sie sich erfolgreich um eine Küchenstelle in einem Hotel, das gleich nach dem Ende des Krieges für die Organisatoren der Potsdamer Konferenz eingerichtet worden war und seitdem von sowjetischen Offizieren bewohnt wurde. Dort lernte sie den Koch kennen, einen für diese Zeit ungewöhnlich fetten Mann um die fünfzig, der im Krieg seine Frau bei einem Bombenangriff verloren hatte. Er zog schon bald bei ihnen ein.

      Christian konnte den Eindringling nicht leiden. Als aber Maria ihre Arbeit in der Hotelküche wieder aufgeben musste, um ihre immer hinfälliger werdende alte Mutter pflegen zu können, sah er, dass dieser Mann seinen Plänen nützlich sein könnte. Ermutigt durch die Sicherheit, die der Koch der Familie brachte, traute Christian sich, laut über Alternativen zur Arbeit in der Molkerei nachzudenken. Von seiner Mutter konnte er wenig Hilfe erwarten, dazu war sie zu sehr auf das Heute fixiert und mit dem Überleben beschäftigt.

      »In Deutschland gehen nur Mädchen auf ein Lyzeum. Die Jungen gehen aufs Gymnasium, aber dazu müsstest du zu viel nachholen«, gab sie zu bedenken, »und mit Zwölfjährigen möchtest du doch sicher nicht zusammensitzen.«

      Hilfe bekam er von einer Seite, von der er es nicht erwartet hatte. Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung BGL schlug vor, ihn zur Vorstudienanstalt VA zu delegieren.

      »Im Neuen Deutschland habe ich gelesen, dass man an der Uni Berlin jetzt die Hochschulreife nachholen kann. Dort bekommst du ein Stipendium, und in zwei Jahren bist du fertig, kannst dann gleich weiterstudieren. Man sollte zwar eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, aber die nehmen es bestimmt nicht so wörtlich.«

      Christian mochte auch diesen Mann nicht und vermutete, dass er ihn nur aus dem Betrieb haben wollte. Das aber war ihm gerade recht.

      »Schreib einen Lebenslauf in zweifacher Ausfertigung und eine Bewerbung. Ich schreibe eine Befürwortung. Bei meiner nächsten Fahrt nach Berlin nehme ich alles mit«, sagte der Gewerkschaftler.

      Christian schrieb und vergaß auch nicht den Mord an dem Vater in Katyn zu erwähnen − die offizielle Version, die inzwischen ja auch von der Mutter verbreitet wurde.

      »In Polen hast du immer gesagt, die Russen haben Papa erschossen«, hat er ihr vorgehalten, als sie nach der Vertreibung aus Polen in Potsdam allen von der Ermordung ihres Mannes durch die Nazis erzählte.

      »In Polen waren die Nationalsozialisten die Besatzungsmacht, hier sind es die Russen, und wir leben unter den Kommunisten. Es sagen hier doch alle, dass es die Nazis waren«, hat sie geantwortet.

      Wenige Tage nach dem Schreiben seiner Bewerbung bekam Christian Koschek eine Einladung zur Aufnahmeprüfung. So begann in der Vorstudienanstalt VA der Universität Berlin seine Karriere.

      Am ersten Tag seiner Reise nach Berlin kam Philipp bis Hannover. Es war bald Mitternacht. Der Bahnhof machte einen unfreundlichen Eindruck. Im Schein der sparsamen Beleuchtung sah er überall die Spuren der Zerstörung durch den Krieg, spürte die Kühle der Herbstnacht und war hungrig. In dem großen, überfüllten Wartesaal fand er in der Nähe der Tür zur Toilette noch einen Platz, stellte den Sack mit dem Federbett an die Wand, setzte sich auf die geschichteten Koffer, steckte einen Fuß durch die Träger des Rucksacks, drückte seinen Rücken gegen das Federbett und versuchte ein wenig die Augen zu schließen, ohne zu schlafen. Das lange Sitzen auf den Holzbänken, das Quietschen der Wagenbremsen bei den unzähligen Halts, der knallende Lärm beim Zuschlagen der vielen Abteiltüren vor jeder Weiterfahrt und das eintönige Tack-Tack der Wagenräder während der Fahrt hatten Philipp müde gemacht. Er wurde wach, als der Morgen durch die Fenster schien und das Lampenlicht in dem Wartesaal verblasste. Beruhigt stellte er fest, dass von seinem Gepäck nichts fehlte.

      Der Zug bis zur Zonengrenze war nicht so überfüllt wie der Zug am Tage zuvor. Auf dem Bahnhofsvorplatz von Helmstedt, der Endstation in Westdeutschland, boten Menschen mit Handwagen ihre Dienste an, um das Gepäck der Reisenden zur Grenzstation zu fahren. Philipp verhandelte mit einer Frau über den Preis.

      »Geben Sie mir, was Sie haben; drüben dürfen Sie sowieso kein Westgeld besitzen.«

      Er gab und schüttete dazu noch das Hartgeld aus seiner Börse in ihre offen gehaltenen Hände. In Berlin, das wusste er, gab es ja sofort das erste Stipendium in Ostmark. Vor dem Schlagbaum auf der Westseite nahm er sein Gepäck aus dem Wagen und reichte dem britischen Grenzposten seinen Interzonenpass. Der drückte einen Stempel darauf und reichte ihn zurück.

      »Good bye!«

      Philipp schleppte sich mit dem Gepäck durch einige hundert Meter Niemandsland zum sowjetischen Schlagbaum und dem Grenzposten, zeigte wieder seinen Interzonenpass und dazu die Aufnahmebescheinigung der Universität.

      »Nix gutt, Stempel nix rund«, sagte der Posten, deutete auf die Bescheinigung und gab die Papiere zurück.

      Alle Verhandlungsversuche von Philipp führten nicht weiter.

      »Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte er.

      »Du gehen zu-chause!«

      »Dann will ich den Kommandanten sprechen!«

      »Nix Kommandant, ich Kommandant«, sagte der Posten, deutete auf seine Brust und nahm eine drohende Haltung ein.

      Philipp musste zurück. Ratlos saß er in dem Niemandsland auf seinen Sachen. Menschen gingen von Schlagbaum zu Schlagbaum an ihm vorbei und sahen seine verzweifelte Lage.

      »Wenn Sie den Kommandanten sprechen wollen«, sagte ein Mann, »dann gehen Sie doch einfach seitlich in den Wald. Alle, die beim illegalen Grenzübertritt geschnappt werden, kommen nach Marienborn und werden dort verhört.«

      Was bleibt mir übrig?, dachte Philipp.

      Er setzte den Rucksack auf, legte den Sack mit dem Federbett quer darüber, nahm die beiden Koffer und ging in den Wald. Nach zehn Minuten war er immer noch frei. Einige Male stellte er die Koffer ab, lehnte sich erschöpft an einen Baum, nahm sie nach kurzer Zeit wieder auf und ging weiter.

      Endlich