»Mach, dass du rauskommst!«, polterte der Professor.
Pidder nahm den Jungen zur Seite.
»Geh von hier weg! Wenn du weiter zur Schule gehen möchtest, werde ich dir helfen. Ein Stipendium könntest du auch bekommen. Ich beziehe aus Berlin das ›Neue Deutschland‹, da steht gerade etwas für dich drin. Morgen bringe ich es dir mit.«
Am nächsten Tag las Philipp: An der Berliner Universität ist jetzt auch eine Vorstudienabteilung eröffnet worden. Arbeiter- und Bauernkinder sowie Kinder der werktätigen Intelligenz, die über eine abgeschlossene Grundschul- und Berufsausbildung verfügen und sich durch hervorragende Arbeitsleistungen in der Produktion auszeichnen, können von sozialistischen Betrieben zum Besuch der Vorstudienabteilung delegiert werden.
Ein sozialistischer Betrieb ist das hier ja nun nicht gerade, dachte Philipp, und in den Osten delegieren wird mich wohl auch keiner. Pidder aber meinte, das sei ein Text für die Sowjetzone, und in Berlin würden sie es wohl nicht so genau nehmen. Dabei zupfte er an seinen kräftigen, schwarzen Augenbrauen, als wollte er sie ausreißen, was er immer tat, wenn er verlegen wurde.
Einen Monat nach der Währungsreform, Philipp hatte gerade das erste Mal sein Gehalt in neuem Geld bekommen, erhielt er aus Berlin eine Einladung zur Aufnahmeprüfung. Ende September verabschiedete er sich im Institut.
»Was nütze es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele«, gab ihm der Professor bedeutungsvoll mit auf den Weg, schenkte ihm ein kleines Buch mit Bibelsprüchen, ging anschließend ins Labor und rieb sich inmitten der Laboranten die Hände.
»Den sind wir also los!«
Alle lachten zustimmend. Pidder schwieg und drückte, als sie alleine waren, dem Jungen auch ein schmales Bändchen in die Hand. Als Philipp das Bändchen aufschlug, sah er, dass es in London gedruckt worden und genau 100 Jahre alt war; das Papier war schon ganz gelb. Es trug den Titel »Manifest der Kommunistischen Partei« und begann mit dem Satz: Ein Gespenst geht um in Europa ...
Vater Siebert brachte Philipp zum Bahnhof und trug den Jutesack mit dem Federbett.
»Wie willst du mit den beiden Koffern das alles noch tragen?«, fragte er.
»Es wird schon gehen«, antwortete Philipp. Er brauchte dieses Federbett nicht, wollte aber seine Mutter nicht kränken.
»Deine Aussteuer, und damit du es warm hast«, hatte sie mit einem missglückten Lächeln gesagt, ihm einen Kuchen eingepackt, verstohlen noch einen Christopherus-Taler in die Hand gedrückt und dann still geweint, so wie er sie manchmal hatte weinen sehen, wenn sie von ihrem Mann geprügelt worden war oder ein anderer Kummer sie quälte.
Der Zug lief ein, Philipp umarmte den Vater, spürte dessen Stoppelbart und den von der vielen Arbeit ausgemergelten Körper.
»Dass du ab morgen ein Russe bist, das weißt du ja!«, rief der Vater, dann blieb er auf dem Bahnsteig zurück.
Philipp winkte ihm noch einmal zu, einem müden alten Mann von dreiundvierzig Jahren.
Nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion hatte Sophie Dahlhaus Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Sie war erst sechs Jahre alt, als die Nazis ihren Vater verhaftet hatten und sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in die Sowjetunion geflohen war. Seitdem haben ihr Bruder und sie in sowjetischen Kinderheimen gelebt, wurden in Schulen zusammen mit Kindern vieler Nationen unterrichtet und sprachen nur Russisch. Die Mutter musste arbeiten. Nur einen Teil der Ferien, und auch nicht in jedem Jahr, konnten die Kinder bei ihr sein − für Sophie zu wenig, um weiterhin die deutsche Sprache sprechen zu können. Ihr Bruder Kurt war bei der Flucht aus Deutschland schon neun Jahre alt und sprach länger und besser Deutsch. Aber nachdem sie die Nachricht erhalten hatten, dass ihr Vater von den Nazis hingerichtet worden sei, weigerte er sich, »die Sprache der Mörder« zu sprechen, und wollte nach dem Kriege auch nicht mehr nach Deutschland zurück.
So kam Edda Dahlhaus im Juni 1945 allein mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter Sophie nach Deutschland. Der Beauftragte des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschland für das Land Brandenburg empfing sie, besorgte ihnen eine Wohnung und teilte die Genossin Edda zum Einsatz in der Verwaltung der Stadt und des Kreises Neuruppin ein. Ab sofort zuständig für das Wohnungs- und Fürsorgewesen, war sie mit der Beschaffung von Wohnraum für die vielen Flüchtlinge aus dem Osten und der Versorgung der Bevölkerung beschäftigt.
Sophie genoss es, nach den Jahren der Trennung wenigstens an den Abenden mit der Mutter zusammen sein zu können. Sie lernte fleißig die deutsche Sprache, und als im Oktober die Oberschule in der Stadt ihren Betrieb wieder aufnahm, meldete Edda ihre Tochter dort an.
Edda aber war mehr und mehr eingespannt in der Stadtverwaltung und kam an den Abenden immer später nach Hause. Wenn sie in den seltener werdenden gemeinsamen Stunden begeistert erzählte, dass sie einen Saboteur habe verhaften lassen oder einen Spion entlarven konnte, wurde Sophie neidisch. Sie erinnerte sich an ihre Zeit in der Sowjetunion und wie gerne sie im Unterricht »Spione und Konterrevolutionäre entlarven« geübt hat. Ihre Wachsamkeit wurde dadurch so sehr geschult, dass sie bei einer notwendigen Blinddarmoperation den behandelnden Arzt ablehnte; sie erkannte in ihm einen Konterrevolutionär.
In der Oberschule in Neuruppin bekam Sophie Schwierigkeiten, sowohl mit ihren Mitschülern als auch mit dem zu erlernenden Stoff. Die Lehrer rieten Edda schließlich, ihre Tochter von der Schule zu nehmen. Edda tobte und beschimpfte die Pädagogen als Faschisten und Reaktionäre, folgte aber endlich doch dem Rat der Schule. Sophie übernahm allein die Hausarbeit. Edda machte Karriere in der Verwaltung und in der Politik. Sie wurde Kulturreferentin und Kreisrat für Volksbildung.
Eines Abends übte Edda zu Hause ein Referat, das sie am nächsten Tag vor Kulturschaffenden halten sollte und das da lautete: Überlegungen über die Notwendigkeit der Beseitigung der feudalen Herrschaftsbauten in Brandenburg gemäß dem Befehl der Sowjetischen Militär-Administration SMA. Sophie musste Publikum spielen und zuhören. Und während sie sich bemühte, den Gedanken der Mutter zu folgen, ging es ihr plötzlich durch den Kopf: Sie beutet mich aus, meine Mutter macht Karriere auf meine Kosten. Am Tage darauf las Sophie im »Neuen Deutschland«, dass an der Berliner Universität eine Vorstudienabteilung für Arbeiter- und Bauernkinder mit abgeschlossener Berufsausbildung eröffnet worden sei. Vielleicht nehmen sie es ja nicht so genau, dachte sie, und schrieb ohne Wissen ihrer Mutter eine Bewerbung an die Universität Berlin.
Christian Koschek, der Junge, hat heimlich in den Quarkbehälter gepinkelt. Ein Molkereiarbeiter hatte ihn einen Pollacken geschimpft. Als Christian danach, an der Abpackmaschine stehend, auf dem Laufband die in Wachspapier gewickelten, durch die Oberlichtsonne beschienenen und in reinem Weiß leuchtenden Quarkportionen mit der Aufschrift »Deutscher Qualitätsquark aus Potsdam« an sich vorbeiziehen sah, war er zufrieden. Er hatte sich dagegen zu wehren versucht, in dieser Molkerei zu arbeiten, und wollte weiter zur Schule gehen. Aber seine Mutter meinte, dass das Faulenzen ein Ende haben müsse, Krieg und Flucht seien nun vorbei, und mit seinen sechzehn Jahren sei er ohnehin zu alt für die Schule.
Frau Koschek kannte den Vorsitzenden vom Antifaschistischen Ausschuss in Potsdam, einen hageren, mit einer schwermütigen Frau verheirateten Kommunisten. Sie erzählte ihm, die Nazis hätten ihren Mann, einen polnischen Offizier, in Katyn erschossen. Seitdem erfüllte der Genosse Vorsitzende ihr manchen Wunsch und versuchte sie zu trösten. Er hatte Christian die Arbeit in der Molkerei besorgt.Maria Koschek war dankbar und wusste es zu nutzen, dass ihr Sohn nun täglich mit Milch, Butter und Quark umging, das war kurz nach dem Krieg eine Goldquelle. Sie gab Christian allmorgendlich sein Frühstücksbrot in einer Blechdose mit und dazu eine mit Getreidekaffee gefüllte Flasche. Nur wenige Andeutungen waren nötig, und Christian wusste, was seine Mutter von ihm erwartete. So konnten sie dank glücklicher Umstände in einer Zeit des allgemeinen Hungerns gut leben; und weil Maria die Anteile der Molkereiprodukte, welche sie nicht zum Verzehr für ihren Sohn, für ihre alte Mutter und für sich benötigte, auf