Philipp begrüßte alle und setzte sich zur Großmutter. Die Mutter schenkte ihm Kaffee ein und stellte den Kuchenteller näher zu ihm hin.
»Wo ist Opa?«, fragte Philipp.
»In der Schusterkammer, der kriegt hier keine Luft«, antwortete die Großmutter.
Eine Nachbarin wollte wissen, ob Philipp denn keine Angst habe vor den Russen, man wisse doch, und so stände es ja auch in den Zeitungen, wie schrecklich diese Menschen seien. Sie würden Uhren stehlen und die Frauen vergewaltigen. Philipp wurde ärgerlich.
»Ich habe mehr Angst vor den Deutschen, sie vertreiben oder vergasen die Menschen.«
Hännes sprang auf.
»Ein Russe! Ein Russe! Du redest schon genau wie die Polit-Kommissare. Alles müsst ihr verdrehen. Seht ihn euch an! Halb verhungert ist er schon. Sie haben nichts zu essen, aber dafür haben sie ihren Stalin und ihre Dialektik, so nennen sie das, wenn sie einem einreden wollen, dass Hungern und Gefängnisse gut sind für den Sieg des Kommunismus.«
»Kinder, seid ruhig, vertragt euch, nebenan liegt Paul«, versuchte Oma Josepha zu schlichten und zog Hännes wieder auf seinen Platz zurück.
Philipp fiel ein, dass er in der Schultasche noch gut die Hälfte der Dauerwurst hatte. Er holte die Wurst, schnitt dicke Scheiben davon ab und verteilte diese.
»Probiert mal! Wurst aus Ostdeutschland. Ich habe sie auf der Reise nicht ganz geschafft.«
Die Frauen kosteten schmatzend die Wurst und lobten ihre gute Qualität, Onkel Hännes weigerte sich zu probieren.
»Aber in der Zeitung stand, bei euch gibt es immer noch Lebensmittelkarten«, bemerkte eine Nachbarin.
»Das stimmt«, erwiderte Philipp, »aber es gibt schon viel ohne Marken zu kaufen. Wir haben Läden, dort kann man von der Schokolade bis zum Kaviar alles bekommen, natürlich ein bisschen teurer.«
»Das finde ich richtig«, sagte eine andere Nachbarin und langte nach einem neuen Stück Streuselkuchen. »Wer Kaviar essen will, der soll auch dafür bezahlen. Ich selber mag gar keinen Kaviar.«
»Hast du schon mal welchen probiert?«, fragte Hännes und schüttete sich den nächsten Schnaps ein.
»Nee, woher denn«, gab die Nachbarin kauend zu.
»Dann red auch nicht so daher«, sagte Hännes und trank das Glas in einem Zug leer.
Philipp übernachtete auf dem Sofa in der Wohnküche und schlief lange nicht ein. Er musste an den Vater denken, der nebenan im Sarg lag.
Am nächsten Morgen war es trübe und regnerisch. Zuerst kamen Heinkes und sein ältester Sohn ins Haus, um mit Lisa noch einmal alles zu besprechen. Heinkes trug einen Zylinder auf dem Kopf. Als er Philipp sah, unterbrach er die Besprechung, setzte kurz sein Trauergesicht auf und drückte ihm stumm die Hand. Dann wurde er wieder geschäftig.
»Na, Junge, haben wir den Vater nicht gut hingekriegt? Das war gar nicht so einfach; der Stein muss ein Riesenbrocken gewesen sein. Der Vater war ganz eingedrückt. Aber der Heinkes macht das schon.«
Nach und nach traf die Verwandtschaft ein und füllte das Haus. Alle traten noch einmal an den offenen Sarg und nahmen Abschied von Paul. Dann kam die Kutsche.
»Für die Fußkranken«, sagte Heinkes. »Bis zum evangelischen Friedhof ist es doch ein ganz schönes Stück Weg.«
Josepha war mit ihrem Versuch, für Paul eine katholische Totenmesse und eine Beerdigung auf dem katholischen Friedhof zu bekommen, an der Weigerung des Pfarrers gescheitert.
Ferdinand saß schon in der Kutsche. Als Josepha ihn bat auszusteigen und noch einen Moment ins Haus zu kommen, weigerte er sich. Auf der Straße vor dem Haus sammelten sich die Nachbarn. Die Männer trugen Zylinder, viele Frauen hatten schwarze Hüte mit Gesichtsschleiern aufgesetzt.
Die Musiker vom Knappenverein in ihren schwarzen Uniformen mit den großen Messingknöpfen versammelten sich auf dem Hof und stellten ihre Blasinstrumente neben sich auf den Boden.
Zuletzt kam der Leichenwagen, gezogen von zwei mit schwarzen Tüchern bedeckten Pferden. Die Pferde trugen schwarze Masken und zwischen den Ohren schwarze Federbüsche. Durch die Glasscheiben des Leichenwagens sah man im Innern auf allen Seiten blütenweiße Spitzengardinen.
Sechs Knappen mit schwarzen Federbüschen an den Hüten und weißen Handschuhen kamen ins Haus. Josepha bat sie noch einen Moment zu warten, holte eine mit Weihwasser gefüllte Weinflasche und besprenkelte die Leiche und den Sarg. Die Knappen schlossen den Sarg, trugen ihn auf die Straße und schoben ihn in den Leichenwagen. Dann holten sie die Kränze, von denen sie einige außen an die Seitenlaternen des Wagens hängten, andere in den Wagen neben den Sarg legten. Zuletzt stellten sie einen großen Kranz mit langen weißen Schleifen hinter den Sarg und schlossen den Leichenwagen. Der große Kranz war durch die Scheiben für alle sichtbar. Die Schleifen waren so geordnet, dass man die Beschriftung gut lesen konnte: Ein letzter Gruß von Deiner Dich liebenden Frau und von Deinem Sohn.
Philipp führte Jacob zu der Kutsche, in der gegenüber Ferdinand schon zwei dicke Frauen aus der Nachbarschaft Platz genommen hatten. Die Knappenkapelle formierte sich, setzte sich auf ein Zeichen von Heinkes’ Sohn in Bewegung und spielte einen Trauermarsch. Ihr folgte der Leichenwagen, begleitet von drei Trägern auf jeder Seite. Dahinter Lisa, Josepha und Philipp, der in der Mitte ging und den beiden Frauen den Arm reichte. Ihnen folgte die Familie, dann kamen die Nachbarn und die Kumpel. Den Abschluss bildete die Kutsche. Als der Zug in die Hauptstraße nach Hamborn einbog, trat ein Polizist an die Spitze und schritt im Takt der getragenen Musik vor der Musikkapelle her. Passanten blieben am Straßenrand stehen und lauschten der Musik, Männer lüfteten ihre Hüte, Autos hielten an, Radfahrer stiegen ab, Kinder liefen nebenher, aus den Häusern am Wege traten Frauen vor die Tür, banden ihre Schürzen ab und bekreuzigten sich.
Vor der evangelischen Kirche hielt der Zug kurz an. Ein junger Pastor kam, trat an den Leichenwagen, sprach ein Gebet, begab sich hinter den Wagen, und der Zug ging weiter. Nach einer halben Stunde Weg erreichte der Zug den Friedhof und hielt. Die Träger öffneten den Wagen, legten die Kränze zur Seite und übernahmen den Sarg. Der Zug folgte ihnen auf den Friedhof. Ferdinand, Jacob und die beiden dicken Nachbarinnen stiegen aus der Kutsche und gingen hinter den anderen her. Der Leichenwagen fuhr heim.
Quer über dem offenen Grab lagen zwei Holzbohlen, auf jeder Bohle lag ein Seil. Die Träger stellten den Sarg auf die Bohlen und verharrten, bis die Trauernden sich zu einem Kreis um das Grab versammelt hatten. Die Männer nahmen ihre Zylinder ab. Vier der Träger zogen an den Seilen und hoben den Sarg an, die beiden anderen nahmen die Bohlen weg und legten sie hinter sich, die vier ließen langsam die Seile durch ihre Hände gleiten, der Sarg senkte sich ins Grab. Zwei Träger zogen die Seile herauf und legten sie an die Seite. Dann stellten alle Träger sich auf, zogen ihre weißen Handschuhe aus, warfen sie auf das Kopfnicken eines Trägers hin gleichzeitig in das Grab und traten zurück.
Die Musiker spielten »Ich hatt’ einen Kameraden«, der Pastor trat ans Grab, schlug seine Bibel auf − und es begann heftig zu regnen. Unter den Trauernden kam Unruhe auf, überall wurden die Schirme geöffnet, man hörte Gemurmel. Lisa stellte sich bei Josepha unter und gab ihren Schirm an Philipp weiter. Der öffnete ihn und ging damit zum Pastor. Der Schirm war so klein, dass Philipp und der Pastor sich eng aneinander schmiegen mussten.
Der Pastor versuchte gegen das Geräusch des fallenden Regens anzureden und begann mit seiner Predigt. Er sprach von dem »lieben«, stockte, suchte einen Zettel in der Bibel, fand ihn nicht und sprach weiter »Verstorbenen«, der nun die ewige Seligkeit erlangt habe. Vom Schoße Gottes sprach er und davon, dass Jesus die Mühseligen zu sich nehme. Der Regen prasselte so stark, dass schon die Nächststehenden die Worte nicht mehr verstehen konnten. Der Pastor nahm die in dem aufgeworfenen Boden steckende kleine Schaufel und warf etwas von dem lehmigen Boden in das Grab. Philipp hörte ihn »Erde zu Erde« murmeln und sah, dass der Sarg schon im Wasser stand. Wenn das Wasser steigt und in den Sarg eindringt, dachte er, dann verläuft