»Der Vater meiner Mutter heißt bei mir Opa, seine Frau heißt Oma«, sagte Philipp.
»Ja, bei dir! Ich kenne doch niemanden aus der Familie. Als wir in die Sowjetunion fliehen mussten, war ich sechs Jahre alt. An die Zeit davor habe ich kaum noch Erinnerungen. Muttis Schwester soll in Westdeutschland wohnen; aber Mutti verkehrt mit keinem aus dem Westen.«
»Wo bist du denn geboren?«
»In Westberlin, in Dahlem, mein Bruder auch. Aber das Haus ist ausgebombt und die Ruinen sind abgerissen worden. Der Vater von Mutti, mein Opa, hat das Grundstück verkauft. Mutti hat auf alle Erbansprüche aus dem Westen verzichtet.«
»Und dein Vater, der hatte doch sicher auch Familie?«
»Er hatte keine Geschwister. Irgendwelche Verwandten soll es in Thüringen noch geben.«
Sie hörten ein Auto vor dem Haus halten.
»Das wird die Mutti sein«, sagte Sophie und stürzte hinaus.
Durch das Zimmerfenster sah Philipp einen Mann aus einer sowjetischen Limousine steigen und die Tür zu den Hintersitzen aufhalten. Eine Frau stieg aus und sprach mit dem Fahrer, der lüftete seine Mütze und fuhr mit dem Auto davon.
Wie klein sie ist, dachte Philipp. Sophie erschien auf der Straße, umarmte ihre Mutter, und beide gingen ins Haus. Philipp hörte sie im Flur mit den Wirtsleuten reden.
»Das ist Philipp«, sagte Sophie, als sie ins Zimmer traten.
»Guten Tag, Genosse Philipp«, grüßte die kleine Frau freundlich und reichte Philipp die Hand.
Philipp war überrascht, diese Anrede hatte er nicht erwartet.
»Tag, guten Tag, Genossin«, stammelte er.
Frau Dahlhaus fand das anscheinend ganz natürlich, schaute auf ihre Armbanduhr und wandte sich an ihre Tochter.
»Eine Stunde habe ich dem Fahrer frei gegeben, das muss wohl reichen, Kind, oder?« Sophie nickte. »Ich lebe jetzt wie ein Bourgeois, mit Auto und Fahrer, aber so ist es eben effektiver.« Sie setzten sich, Sophie schenkte Tee ein. »Aber ihr lebt ja auch nicht schlecht. Russischer Tee?«
»Nein, kapitalistischer Tee, den hat mir meine Mutter mitgegeben«, erklärte Philipp.
»Dem Tee wird es schon nicht geschadet haben, aus dem Westen zu sein, und wenn er ein Geschenk von deiner Mutter ist, dann ist er bestimmt gut.«
Sie tranken den Tee. Philipp fühlte sich unwohl in Nähe dieser Frau.
»Sophie hat mir von dem Unglück mit deinem Vater geschrieben, schlimm, schlimm, das tut mir aufrichtig leid. Aber so ist das eben, wenn Grubenbesitzer die Menschen rücksichtslos ausbeuten.«
Diese Frau redet von Ausbeutung in den Gruben, dachte Philipp, und ein Satz von seinem Vater bei einem ihrer letzten Gespräche in den Sommerferien fiel ihm ein: »Rede nicht von der Arbeit, wenn du noch nie richtig gearbeitet hast.«
Er bekam seine Sicherheit zurück.
»Gibt es in den Kohlegruben der Sowjetunion keine tödlichen Unfälle?«
»Sicherlich, aber dort gehören die Gruben den Arbeitern, und die beuten sich selber nicht rücksichtslos aus.«
»In Westdeutschland gibt es Gewerkschaften, und außerdem ist es den Kumpeln sicher egal, ob sie von kapitalistischen oder von volkseigenen Steinen erschlagen werden.«
»Als Genosse vertrittst du eine interessante These. Vergiss aber nicht die Einstellung zur Arbeit. Es ist schließlich ein Unterschied, ob man für Fremde arbeiten muss oder ob man weiß: Das, was ich schaffe, gehört mir. Nur dann ist man doch mit Liebe bei der Arbeit.«
»Liebe ist ein falsches Wort. Liebe zu einer Sache, welche die Menschen kaputt macht, kann nur jemand propagieren, der nichts von der Sache kennt.«
»Oho! Du sprichst immerhin mit der künftigen Staatssekretärin für Arbeit.«
Sophie schaltete sich ein.
»Philipp hat schon als Laborant gearbeitet; in der Klasse ist er der Beste in Naturwissenschaften, besonders in Chemie.«
»Das ist schön«, sagte Edda. »Wir brauchen fähige Kader für den Aufbau des Sozialismus, auch kritische Kader. Hast du dir schon überlegt, ob du nach dem Studium in der DDR bleiben willst oder in den Westen zurückgehst?«
»Das weiß ich noch nicht; ich fange ja eben erst an.«
»Wir schaffen aus der Arbeiterklasse auch eine Intelligenz für den Westen, das ist Teil unserer Revolution«, sagte Edda, fasste ihre Teetasse mit spitzen Fingern, führte sie zum Mund und trank daraus, indem sie beim Trinken den kleinen Finger ihrer Hand abspreizte.
»Hoffentlich wissen die künftigen Revolutionäre dann auch, wozu sie ausgebildet worden sind«, bemerkte Philipp.
»Da machen wir uns keine Sorgen. Wenn sie sich entscheiden müssen, wie sie zu handeln haben und wo sie hingehören, vertrauen wir auf den proletarischen Instinkt. Ich gebe dir ein Negativbeispiel: In meiner Zeit in der Sowjetunion ist ein guter Freund von mir verhaftet worden. Natürlich habe ich alle Briefe, die er mir geschrieben hat, bei den Staatssicherheitsorganen abgegeben. Nun hatte mir der Freund in einem Brief mitgeteilt, dass ein Arbeitskollege und Genosse sich kritisch über die Staatssicherheit geäußert habe und er das melden werde. Als wir uns später trafen und ich ihn gleich fragte, ob er auch den Genossen gemeldet habe, machte er Ausflüchte. Der Genosse leiste gute Arbeit und habe diese Äußerung sicher nur in einer momentanen Erregung und im Ärger über die schlechten Lebensbedingungen gemacht. Als die Staatssicherheit seinen Brief an mich las, machte man mir zum Vorwurf, dass ich den Vorfall nicht sofort gemeldet hätte. Ich wurde vorübergehend aus der Partei ausgeschlossen, kam dann aber mit einer strengen Rüge davon, weil ich genügend selbstkritisch war. Siehst du, Genosse Philipp, da hat mir die proletarische Biographie gefehlt, sonst wäre ich natürlich sofort zur Staatssicherheit gegangen, als ich die Ausflüchte des Freundes vernahm. Aber meine bürgerlichen Eierschalen haben mich damals daran gehindert.«
Vorsicht!, dachte Philipp, diese freundliche, wohlerzogene Frau aus gutbürgerlichem Hause bringt dich, ohne zu zögern, ins Gefängnis oder sogar an den Galgen. Er sah plötzlich, dass sie, die für eine imaginäre Arbeiterklasse schwärmte wie andere ihrer Herkunft für kostbares Porzellan, über Leichen gehen würde.
»Ja, ich glaube, das hätte ich sofort gemeldet, Genossin«, sagte er.
Sophie schaute ihn erstaunt an. Edda nickte zufrieden.
14
Wieder näherte sich das Jahr dem Ende und eine Stalinfeier stand ins Haus. In diesem Jahr, am 21. Dezember 1949, dem 70. Geburtstag Stalins, plante die ABF eine besondere Feier mit Rezitationen und Stalinhymnen. Einige in der Klasse wollten auch, wie schon im letzten Jahr, eine Weihnachtsfeier veranstalten, aber Werner, der neue Klassensprecher, protestierte und setzte sich nach einer längeren Diskussion durch.
Philipp bekam eine Einladung von Isa, mit ihr in den Wintersport nach Thüringen zu fahren. Weil sie beide nicht auf einen Interzonenpass hoffen konnten, hatte Isa sich an den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund FDGB gewandt mit der Bitte um Ferienplätze über Weihnachten. Als Christian davon hörte, wollte er mitfahren. Isa war dagegen, bis es Christian gelang, Lena zu überreden auch mitzufahren.
Das FDGB-Angebot galt ab dem 21. Dezember, dem ersten Tag der Weihnachtsferien. Christian und Philipp äußerten Bedenken wegen der Stalinfeier, aber dann meinte Christian, vielleicht fiele es gar nicht auf, wenn sie fehlten. Als der Zug durch die verschneiten Wälder Thüringens fuhr, vergaßen sie die ABF, die Stalinfeier, die Musikhochschule, die Trümmer Berlins und freuten sich auf die Zeit miteinander in der weißen Landschaft am Rennsteig.
Das Ferienheim war außen ganz mit Schieferplatten verkleidet und hatte nur wenige Gäste. Der Wirt gab ihnen ein Doppelzimmer