»Du musst Thälmann wählen!«, sagt er erregt und schlägt mit der Faust auf den Schustertisch, so dass die Gläser und die leere Schnapsflasche hochspringen.
»Mit deinem Thälmann bringst du uns diesen Spinner Hitler«, sagt Jacob ruhig, und dann lauter: »Wer Thälmann wählt, wählt Hitler!«
Dabei schlägt er kräftig mit dem Hammer auf die Gummiplatte.
»Gib mir sofort mein Bein zurück!«, ruft Onkel Gorski. »Mit einem Verräter rede ich nicht!«
Er ist ganz rot im Gesicht, springt auf und versucht stehend das Holzbein in die leere Hose zu schieben. Jacob steht auch auf und will helfen. Onkel Gorski verliert das Gleichgewicht, wirft den Stuhl um, versucht sich an Jacob festzuhalten, stürzt und streckt »alle dreie« von sich. Jacob versucht noch, sich am Tisch zu halten, greift aber in die Luft und stürzt auch. Dann ist es lange still. In die Stille hinein hören sie unter sich drei Klopfer. Die Großmutter hat mit dem Besenstiel gegen die Decke gestoßen und damit ein Zeichen gegeben, dass das Mittagessen fertig sei. Da dreht sich Opa Jacob zu dem neben ihm liegenden Onkel Gorski.
»Du bleibst doch zum Essen?!«
12
Am späten Abend erreichte Philipp Hötensleben. Genosse Wendt schlief schon; er war ungehalten über die späte Störung und schimpfte: »Was denken die sich denn eigentlich in Berlin! Ich möchte auch mal meine Ruhe haben.«
Philipp erzählte ihm, dass er besonders wichtige Akten überbringen müsse und dass er erst heute früh vom Parteivorstand ausgewählt worden sei. Dabei klemmte er seine Schultasche fest unter den Arm, als wollte er die drei trockenen Schrippen, das zweite Paar Socken sowie das frische Unterhemd darin gegen alle Parteifeinde verteidigen.
»Du bist noch sehr jung, Genosse, bist du zum ersten Mal unterwegs?«
»Ja, aber der Genosse Ulbricht hat mich persönlich ausgewählt.«
Das muss wohl reichen, dachte Philipp. Und er behielt Recht; der Genosse Wendt stellte keine weiteren Fragen, sondern weckte seine Frau. Gemeinsam bereiteten sie ein üppiges Abendbrot für den Gast: Brot, Käse, Wurst, Butter, Kaffee mit Milch und anschließend Obst. Philipp langte tüchtig zu und bedankte sich anschließend artig.
»Was soll das, machst du dich lustig über uns?«, fragte der Genosse Wendt. »Die Sachen sind doch von der Partei geliefert worden. Wenn du mit dem Parteivorstand zu tun hast, dann kennst du das ja. Die sollten sich allerdings auch mal was anderes einfallen lassen als immer nur die gleiche Dauerwurst. Meine Frau macht dir noch das Paket fertig für die Weiterreise.«
Philipp bekam eine ganze Dauerwurst, dazu Brot und Butter.
»Wenn du die Sachen in die Tasche steckst, Genosse, pass auf, dass die Akten nicht fettig werden«, ermahnte ihn die Frau.
»Ja, Genossin.«
Um vier Uhr am nächsten Morgen wurde Philipp geweckt. Wieder gab es einen reichhaltig gedeckten Tisch zum Frühstück, und wieder mit richtigem Kaffee. Danach brachte ihn der Genosse Wendt zur Grenze. Es war kühl und feucht, und es ging ein leichter Wind. Ab und zu kam das Mondlicht durch die Wolken.
»Wenn du zurückkommst, Genosse, nicht vor zehn Uhr abends, nur der Nachtposten ist eingeweiht, mach dich bei dem Posten bemerkbar, er bringt dich zu mir.«
»Gibt es auf der Westseite keine Kontrollposten?«
»Ach was! Denen ist das doch egal.«
Philipp fröstelte; er hörte vor sich schon das Rauschen des Wassers. Eine Taschenlampe leuchtete auf, der Lichtstrahl tastete sie ab und verweilte einen Moment auf Philipps Gesicht. Aus der Dunkelheit kam eine Stimme.
»Charascho!«
»Dobroje utro!«, sagte der Genosse Wendt.
»Utro!«, antwortete die Stimme aus der Dunkelheit.
Auf einmal sah Philipp im Mondlicht einen schmalen Holzsteg und darunter das Wasser fließen.
»Wenn du drüben bist, gehst du durch die Felder einfach geradeaus bis zur Asphaltstraße, dann rechts weiter bis Schöningen. Von dort fährt wochentags um kurz vor sechs ein Bus nach Helmstedt. Wie du allerdings heute weiterkommst, das musst du sehen. Gute Reise, Genosse!«
»Danke Genosse!«
Philipp überquerte den Bach und war im Westen.
An der Haustür hing ein mit einer Heftzwecke befestigter schwarzer Flor. Die Leiche ist also im Hause, dachte Philipp. Er klopfte, die Mutter öffnete und begann leise zu weinen. Philipp umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Er war selber erstaunt über seine Regung.
»Wo liegt Papa?«, fragte er.
»Im Schlafzimmer«, antwortete die Mutter und nahm ihm die Tasche und seine Jacke ab. »Wir haben wieder die Betten abgebaut.«
Wieder, dachte Philipp, das heißt, wie bei Onkel Simon und bei der kleinen Guste. Er öffnete die Tür und sah den Vater. Der offene Sarg stand leicht nach vorn geneigt auf einem mit schwarzem Tuch behängten Gestell. Rechts und links vom Sarg standen je zwei Kandelaber mit brennenden Kerzen, dahinter Lebensbäume, deren süßlicher Duft den Leichengeruch überlagern sollte. Das Fenster war mit einem Tuch verhängt, so dass die Nachmittagssonne nicht eindringen konnte.
Der Vater sah gut aus, unnatürlich gut, mit vollen roten Wangen und vollem Haar. Die verschränkten Hände schauten aus, als hätten sie nie schwere Arbeit verrichten müssen. Sicher haben sie ihm mit Watte die eingefallenen Wangen aufgepolstert, dachte Philipp.
»Er sieht so gut aus«, jammerte die Mutter.
»Ja, er sieht sehr gut aus«, heuchelte Philipp.
Er wusste, dass der Heinkes immer übertreiben musste. Ein Frisör verdiente sich bei ihm nach Feierabend etwas dazu und richtete die Leichen her. Von Heinkes ständig bedrängt, musste der Haar- und Kosmetikkünstler mit seinem großen Kosmetikkoffer aus Leichen alter oder durch Unfälle entstellter Menschen jung aussehende, heile, hübsche Puppen machen. So also sieht das Ende eines Menschenlebens aus − ein Witz, dachte Philipp. Er erinnerte sich an eine Auseinandersetzung mit dem Vater kurz vor seinem Weggang nach Berlin: Die Mutter hatte vergessen, die wöchentliche Tabakration zu besorgen. Der Vater, über den Umweg Kneipe von der Arbeit kommend, tobte, weil er nichts zu rauchen vorfand. »Ein Päckchen Tabak in der Woche, mehr verlange ich ja nicht; aber nein, auch das ist schon zu viel! Soll ich denn nur noch malochen gehen und sonst nichts mehr vom Leben haben? Da kann ich ja gleich verrecken!«
Die Mutter schwieg und stellte ihm das Essen auf den Tisch. Der Vater nahm den mit Suppe gefüllten Teller und warf ihn auf den Boden. Der Teller zersprang, die Suppe verteilte sich in der Wohnküche. Der Vater sprang herum, stampfte mit den Füßen auf das Durcheinander von Suppe und Scherben, schimpfte weiter und bedrohte die Mutter. Da stand Philipp auf, umklammerte seinen Vater mit beiden Armen, hob ihn hoch, trug ihn zum Stuhl, setzte ihn heftig ab, nahm einen neuen Teller aus dem Schrank, füllte ihn mit Suppe, setzte den vollen Teller vor den Vater auf den Tisch und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ: »Jetzt isst du und rührst dich nicht eher vom Fleck, bis du aufgegessen hast!«
Wie leicht er doch ist, dachte Philipp und merkte sofort, dass er als Kind manchmal vom Vater mit genau den gleichen Worten zum Essen gezwungen worden war. Der Vater saß einen Moment wie versteinert, nahm dann aber den Löffel und aß.
Die Mutter weinte, beseitigte die Scherben und die Essensreste vom Boden, wischte sich mit den Händen die Tränen ab und dabei Suppe ins Gesicht.
Philipp schaute den beiden zu, und ein seltsames Gefühl nahm von ihm Besitz. Er konnte es nicht deuten, wusste aber, dass es weder Triumph noch Wut war.
Die Wohnküche war voll mit Menschen, es waren die Tanten und Frauen aus der Nachbarschaft. Sie tranken Kaffee und aßen Streuselkuchen. Onkel Hännes war der einzige Mann im Raum. Vor ihm stand eine Schnapsflasche und ein leeres Glas.